Stadt & Land

Montag, 9. Juli 2007

Der Spinner vom Dorf

Dieses Jahr lebt erstmals die Hälfte der Menschen weltweit in Städten. Ich gehöre nicht zu ihnen. Und manchmal, wenn ich Abstand brauche, fahre ich mit meinem Fahrrad an den Waldrand auf eine Anhöhe. Dort kann ich auf «mein» kleines Dorf sehen. Es sieht so schön aus, so friedlich. Es dämmert bereits, das Fenster meines Lieblingshauses ist erleuchtet, plötzlich erlischt es. Der Mensch ist zwar da, doch er ist mehr eine Ahnung als eine Tatsache. Man nimmt ihn eher indirekt wahr, schliesslich bewirtschaftet er die Felder rund um das kleine Dorf. Der Mensch hinterlässt seine Handschrift, aber er tut es unauffällig, fast ein bisschen ehrfürchtig vor der Natur. Es ist eine wohltuende Unauffälligkeit in einer Zeit, in der die Menschen so übermächtig wirken. Auch Indien hat ja den unrühmlichen Ruf, vor lauter Menschen aus allen Nähten zu platzen. Menschen, so viele, soweit das Auge reicht. Es sind vor allem die Milliardenstädte, die internationale Schlagzeilen machen, doch das Ländliche hat mich bei meinen Reisen in Nordindien immer viel mehr beeindruckt. Einer meiner indischen Freunde hat einmal zu mir gesagt: «Every big man came from a small place». Das finde ich sehr schön. Liegt es vielleicht daran, dass die Menschen mehr Rückhalt spüren, also mehr Bodenhaftung haben und weniger die Gefahr besteht, völlig abzuheben? Ländliche Strukturen zeichnen sich dadurch aus, dass die Menschen mehr aufeinander angewiesen sind, die Leute kennen sich, man befindet sich in einem Biotop, das wohlig warm ist und Schutz bietet. In so einem Umfeld erkennt man leichter, was wirklich wichtig ist.

Auch viele Künstler ziehen ganz bewusst in kleine Orte. Der deutsche Expressionist Ernst Ludwig Kirchner lebte 21 Jahre bis zu seinem Tod in Davos. Meine Grossmutter spielte als Kind zwischen seinen Gemälden auf dem Heustock Verstecken, während die Bevölkerung ihn als Spinner abtat, weil er violette Kühe malte. Mit Kühen kannten sie sich schliesslich aus, und das Braunvieh im Landwassertal war nun mal braun und nicht violett. Die Tatsache, dass es Künstler vermehrt in kleine Dorfgemeinschaften zieht, wo sie so einiges an Staub aufwirbeln können, hat vielleicht vor allem damit zu tun, dass sie ungestört arbeiten wollen und sich nicht dem Druck aussetzen wollen, der in Künstlerkreisen zuweilen auf ihnen lastet. Als Spinner abgetan zu werden ist manchmal gar nicht so schlecht, schliesslich schafft es unglaublich viel Raum. Raum, den der Künstler mit Kunst füllen kann.

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