Ein Land wie ein überdimensionaler Rummelplatz

Einer meiner indischen Freunde war ehrlich erstaunt zu hören, dass ich mich in einer Millionenstadt wie Delhi mit ihrem chaotischen Strassengewimmel und dem Verkehrslärm wohl fühle. «you come from paradise!» hat er bestürzt ausgerufen. Was auf der Welt machst du also hier?, bedeutete er mir lachend. Doch eine Verdammte aus dem Paradies bin ich definitiv nicht, eher wohl eine Gestrandete der Liebe. Meine Liebe zu Indien machte den Umweg über einer seiner Bewohner. to-bowIm Prinzip hätte es auch irgendein anderes Land sein können. Nicht ich habe mich für Indien entschieden - Indien hat sich für mich entschieden. Auf den ersten Blick ist Indien in vieler Hinsicht das pure Gegenteil der Schweiz: Chaos versus Systematik, Aberglaube versus Rationalität, Langsamkeit versus Effizienz, Schmutz versus Sauberkeit. Niemand aus der westlichen Welt macht den Schritt zum Aufbruch Richtung Subkontinent ohne dass der Weg wenigstens einen kurzen Moment lang überschattet wäre von der Angst des eigenen Mutes. Ich habe viele Menschen ankommen und abreisen sehen in den vergangenen sieben Monaten. Eine Frage, die ich dabei meistens gestellt habe, ist die Frage nach dem Warum. Warum Indien? Die häufigste Antwort lautet: «Nach Indien wollte ich schon immer mal». Indiens Attraktivität auf den Betrachter gründet auf seinen farbenfrohen Strassenszenen, die Schönheit seiner Menschen, vielleicht das scharfe Essen. Die Würze verleiht dem Leben den Geschmack. Indien ist die perfekte Abwechslung vom Alltag.

Wenn man jedoch für längere Zeit an einem Ort ist, sind es wie überall die Menschen, die einen Ort bewohnbar machen. Es sind die Umstände die darüber entscheiden, ob eine Zeit an einem Ort glücklich verläuft oder nicht. Ich hatte das Privileg ein paar gute Lehrer anzutreffen auf meiner Erkundungsreise durch ein Land, in dem es keine Stille gibt. Dadurch, dass ich hier ein emotionaler Rettungsanker gefunden hatte, eine Anlaufstelle, ein Stück Geborgenheit im Fremden, konnte ich mich Indien uneingeschränkt öffnen. Ich bin eingetaucht in diese Welt, Hals über Kopf – und dennoch habe ich nichts verstanden. Indiens Anderssein ist ein Anderssein im 3D-Format - es geht in alle Richtungen. Von den schneebedeckten Gipfeln des Himalajas hinab auf den Meeresspiegel und dann von aussen nach innen – weit, weit nach innen.

Ich kann mich gut an die ersten Tage meines Aufenthalts hier erinnern. Damals ist mir vor allem diese eigenartige Form von Unbeeindrucktheit aufgefallen, die die Inder so auszeichnet und die ich sofort zu übernehmen versuchte, weil ich sie für überlebenswichtig hielt. Es ist eine Geisteshaltung. Soll man es Unerschütterlichkeit nennen? Busse, die vor Menschen fast aus ihren Nähten platzen, unhygienische Toiletten, eine Versammlung von Wildschweinen, Kühen und Hunden die sich um einen Berg Müll versammeln…nichts kann die Menschen hier beeindrucken. Inzwischen habe ich mir nicht nur diese innere Haltung angewöhnt. Besucher aus der Schweiz haben mich ausgelacht, weil ich mir diese für Indien so typische Kopfbewegung angewöhnt habe, die für uns wie ein Kopfschütteln aussieht, in Indien jedoch als Nicken gemeint ist – es ist wie ein kurzes Zwicken aus der Halsregion heraus.

Das Bedürfnis sich verhaltenstechnisch anzupassen um weniger aufzufallen ist gross. Ich schäme mich dafür, dass ich während meiner Zeit hier nicht mehr Hindi gelernt habe. Die Assimilation findet hier jedoch nicht so sehr wie bei uns über die Sprache statt, sondern viel eher über den Verkehr. Wer gelernt hat, sich im chaotischen Strassenverkehr reissverschlussartig einen Weg auf die andere Strassenseite zu bahnen, hat erkannt, was es heisst, in Indien zu leben. Wer sich dann noch hinters Steuer setzt, hat die Aufnahme endgültig geschafft.

Was mich immer wieder von neuem in Staunen versetzt, ist die Tatsache, mit wie viel Begeisterung und Freude man in Indien als Ausländer Willkommen geheissen wird. Besucher werden regelrecht auf Händen getragen. Kein einziges Mal bin ich auch nur im Ansatz mit Rassismus in Berührung gekommen. Die Inder sind untereinander – je nach Kaste – weit mehr rassistisch als gegenüber Fremden. Die Leute hier haben mich in ihre Sitten eingeweiht ohne den kleinsten Ansatz von Angst, ich könnte ihnen dadurch etwas wegnehmen. Indien ruht auf eine schöne Weise in sich selbst.

Aus der Distanz betrachtet wirkt die Schweiz auf mich je länger wie mehr wie eine Bilderbuchwelt. Ich beginne die Schweiz genauso zu verklären wie der besagte indische Freund. Doch in gewissen Situationen fühlt man sich auf eigenartige Weise in die Heimat zurück versetzt. Es kann vorkommen, dass man hier abends mitten auf einer Strasse Zeuge einer rührenden Szene wird, wenn eine Mutterkuh mit ihrem Kälbchen auf den Betonstrassen trabt, dann abrupt anhält und ihr Kälbchen säugt. Plötzlich schwinden die Unterschiede zur Schweiz. Der einzige besteht darin, dass die Szenerie nicht auf einer saftig-grünen Alpenwiese, sondern vor einer grauen Häuserfassade stattfindet.
Und irgendwann am anderen Ende des Prozesses scheint sich alles zu vermischen. Ein Leben in einer globalisierten Welt. Manchmal träume ich davon, wie mich eine der in Indien so allgegenwärtigen Motorradrikschas zu Hause in meinem Dorf im Zürcher Weinland zum Bahnhof befördert.

Veröffentlicht auf dem Indien-Portall theinder.de
Jan Rojenfeld - 15. Aug, 13:51

Oh ja... Ich habe eine vierwöchige Reise durch Indien vor drei Jahren gemacht. Da ist das Oktoberfest mit seinen Trachtenträgern an vollbesetzten Wochenende ein Witz dagegen...

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Jan Rojenfeld - 15. Aug, 13:51
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