Winti

Freitag, 7. Dezember 2007

Kloführer, Teil II: Schräge WC's

Neben den charakterstarken WC’s mit Stil, welche im ersten Teil vorgestellt wurden, gibt es einen anderen Typ von WC’s. Jene mit einem sehr eigenwilligen Stil.

dschungel

Diese Klos fallen auf, weil sie etwas leicht Schräges an sich haben. Sie haben also eine gewisse Erlebnisqualität. Die Kloschüssel im Schmalen Handtuch beispielsweise befindet sich auf einer leichten Anhöhe, die man nur durch drei Treppenstufen erklimmen kann. So fühlt man sich regelrecht «auf dem Thron». Es ist irgendwie witzig, für eine so «niedere» Tätigkeit in die Höhe steigen zu müssen. Man fühlt sich gleich ein bisschen besser und besonderer. Ein «Prinzessin-auf-der-Erbse»-Gefühl.
Die Toilette im Kraftfeld ist im ersten Moment leicht irritierend, denn Vertreter beider Geschlechts benutzen denselben Toilettenvorraum, wo man sich an einem riesigen Trog in der Mitte die Hände wäscht. Die bekannten Piktorgramme an der Türe, welche erkennbar macht, wo Weiblein und wo Männlein hingehört, fehlen im Kraftfeld gänzlich. Aber irgendwie hat es sich automatisch so eingebürgert. Die Toilette mit dem Pissoir drin gehört den Männern. Die zwei anderen haben die Frauen erobert. Nirgends lässt sich in so ungezwungener Atmosphäre Pipi machen wie im Kraftfeld.

Donnerstag, 6. Dezember 2007

Der Winterthurer Kloführer, Teil I

Die Zufriedenheit eines Gasts in einem Lokal fängt irgendwo beim Preis-Leistungs-Verhältnis an und hört beim Gang zur Toilette auf. Das WC dürfte manchmal das Zünglein an der Waage sein. Und da offenbar bisher noch niemand auf die Idee kam, bei Restaurantkritiken DAS KLO eines Restaurants in die Bewertung mit einzubeziehen, kommt hier der erste Toiletten-Führer für die Winterthurer Gastro-Szene.

rote_toiletteEs gibt fast nichts Sinnlicheres, als eine Toiletteneinrichtung mit Charakter. Davon bin ich schon lange überzeugt. Das Restaurant kann noch so schick sein, das Essen noch so köstlich, der Kellner noch so aufmerksam, wenn die Toilette ein weiss gekachelter Ausbund an Hässlichkeit ist, vergeht dem Gast die Lust am Einkehren. Beinahe hätten die Wirtsleute es geschafft, den Gast zu verführen, ihn herumgebracht, auf dass er bald wieder kommen möge… bis dann ungefähr in der Hälfte des (weiblichen) Besuchs der Gang zur Toilette ansteht. Sauber sind die Toiletten in unseren Breitengraden glücklicherweise meistens, aber wenn das Interieur den bläulichen Charme eines Junki-WC’s verströmt und man sich in der Kabine kaum um die eigenen Achse drehen kann, wie zum Beispiel im Café Alltag, bleibt ein schaler Nachgeschmack zurück.

Die güldene Klobrille

Das WC eines Restaurants sagt viel aus über die Einstellung, mit welcher die Wirtsleute ihre Gäste bewirten. Eine mit viel Liebe zum Detail eingerichtete Toilette zeugt von ehrlichen Absichten. Es sind nun mal die Details, die zählen. Ein gutes Beispiel für ein Restaurant mit Stil und einem WC mit Charakter ist das Restaurant Barnabas. Die gelben Wände machen einen freundlichen Eindruck und die Luft ist von einer gut riechenden Essenz durchsetzt. Ein anderes Beispiel ist die Toilette im Restaurant Fata Morgana. Das orientalische Restaurant an der Industriestrasse besticht durch die vollendete orientalische Kissen-Atmosphäre (nach Bedarf mit Hand- und Zehenlesen!), und dieses Prinzip zieht sich durch alles hindurch bis hin zum WC: Die Spiegel im arabesken Stil, das Lavabo vergoldet, genauso wie der Seifenspender. Man wundert sich regelrecht, dass aus diesem auf Knopfdruck tatsächlich Seife kommt, sosehr erinnert das Teil an ein Museumsstück. Der Höhepunkt ist die abgefahrene, goldig-glitzernde Klobrille. Auf so etwas extravagantem platziert man seinen Allerwertesten mit besonderer Genugtuung.

Dienstag, 10. Juli 2007

Luxusgut Raum

Die Ausstellung «Sulzerareal – gestern, heute, morgen» in der City-Halle zeigt die Entwicklung des Sulzerareals von einer industriellen Arbeitsstätte zur Vision eines urbanen Wohn- und Lifestyle-Quartiers.

Die Uhr hat keine Zeiger mehr, nur noch das Zifferblattskelett hängt senkrecht von der Decke. Einst war diese Uhr da, um emsigen Fabrikarbeitern die Stunde bis zum Feierabendschlag anzuzeigen. Heute steht sie symbolisch für die Vergänglichkeit des einst blühenden Industriezweigs in Winterthur. Hier, im Dachgeschoss der City-Halle, ist die Ausstellung «Sulzerareal – gestern, heute, morgen» untergebracht. Der Raum ist lichtdurchflutet, die unverkennbare Industrie-Atmosphäre wirkt auf den Besucher nett und einladend. Wenn man von der grossen Fensterfront hinunterschaut, schweift der Blick weit über die Dächer Winterthurs.

Der Ort ist gut gewählt, um der Entwicklung des Sulzer-Areals zu gedenken. Die Geschichte der Sulzerwerke ist untrennbar verbunden mit der Entwicklung der Stadt Winterthur. Ein Zeitstrahl mit den Eckdaten zeigt dies deutlich auf. Stahl und Eisen haben diese Stadt geprägt und ihr für 150 Jahre ein unverkennbares Gesicht verliehen. Auf dem 150 000 Quadratmeter grossen Areal südwestlich des Bahnhofs stellte die Firma Sulzer ab 1834 Dieselmotoren und Turbinen für Schiffe her. Noch heute schippern die meisten Schiffe mit Sulzer-Dieselmotoren über die Weltmeere. Der Konzern leistete damals auf seinem Gebiet Pionierarbeit. Filmdokumente in der Ausstellung zeigen eindrücklich, wie viele Menschen es waren, denen Sulzer Arbeit geboten hat. Nach Feierabend bildeten sich auf den Strassen rund um das Sulzerareal jeweils Menschentrauben, die zu Fuss oder per Fahrrad nach Hause strömten, um sich dort vom harten Fabrikalltag zu erholen. Sulzer stellte ihren Arbeitern kleine Häuschen zur Verfügung, um sozialen Unruhen vorzubeugen. Die Ausstellung transportiert die Emotionen sehr gut, die mit dem Untergang der Industrie einhergingen: Sulzer war mehr als eine Firma. Sie war eine eigene Lebenswelt, ein Stadtteil für sich, ein abgeschlossener Kosmos. Nach dem endgültigen Untergang der Schwerindustrie in den 80er Jahren verloren Tausende von Fachkräften deshalb nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihr Leben, ihre Identität.

Die Menschen gingen, was zurück blieb, war der Raum. Für die Schiffskonstruktion waren riesige Fabrikhallen nötig gewesen, die mit dem Wegzug der Industrie zu Brachen wurden. In der kleinräumigen Schweiz gab es daher plötzlich Raum zum Verschwenden, Raum um sich auszutoben und zu experimentieren. Und der erst noch günstig anzumieten war. In der Folge richteten sich deshalb Künstlerateliers, alternative Bars, Läden und Büros in der ehemaligen «verbotenen Stadt» ein, um das fortzuführen, was die Sulzer einst im Guten begonnen hatte: Ein Platz zu bieten, an dem Menschen sich zu Hause fühlen.

Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft

Auch für die Besitzerin des Areals, die Sulzer Immobilien AG, ist die derzeitige Zwischennutzung laut Geschäftsführer Martin Schmidli eine befriedigende Lösung: «Die Zwischennutzung schlägt eine Brücke zwischen dem, was gewesen ist und dem, was kommen wird», meint er in einem der SF-Filmbeiträge. Und weiter: «Die Identität des Sulzer-Areals soll erhalten bleiben, ohne neue Entwicklungen zu verhindern». Doch das wirkt ein wenig heuchlerisch angesichts der Tatsache, dass die Sulzer Immobilien AG auf 150 000 Quadratmetern Raum sitzt, noch dazu an bester Lage, die sie zu viel Geld machen könnte. Das Problem dabei ist, dass die allermeisten der Industriegebäude unter Denkmalschutz stehen. Das macht die Planung und den Bau teuer. Das Projekt «Megalou» beispielsweise scheiterte grandios. Beim 200-Millionen-Projekt von Star-Architekt Jean Nouvel war in amerikanischen Grössenverhältnissen geplant worden: Auf 40 000 Quadratmetern Bruttogeschossfläche hätte ein Einkaufs-, Dienstleistungs- und Vergnügungszentrum entstehen sollen. Nur finanzieren wollte es niemand. Die Baubewilligung lief aus, bevor der erste Spatenstich ausgeführt werden konnte. Obschon das Projekt «Megalou» in der postindustriellen Nutzungsgeschichte des Areals so etwas wie eine Kehrtwende darstellt, wird es in der Ausstellung nicht besonders herausgehoben. Die Informationen sind zwar vorhanden, aber man muss sie sich mühsam zusammen suchen.

Inzwischen hat man gelernt und versucht nun in kleinen Schritten, sein Ziel zu erreichen. Bereits sind grosszügige Lofts entstanden, und letztes Jahr sind zwei weitere Wohnbauprojekte in Angriff genommen worden. Die Reurbanisierung ist somit in vollem Gang. Im Sulzer-Areal wird alt und neu kombiniert und somit kreieren die Planer gleichzeitig die Vision eines neuen, modernen Menschen: Der gut verdienende Mensch, der zwar die Vorteile der Stadt geniessen möchte, aber ihre Nachteile, nämlich die engen Platzverhältnisse und der Verkehr, möglichst aus seinen Alltag verbannen möchte. Die Belebung des Sulzer-Areals auf diese Weise ist erklärtes Ziel der Besitzerin, das kommt in der Ausstellung deutlich zum Ausdruck. Die Nutzung des Sulzerareals in der postindustriellen Ära als urbaner Freizeitpark ist wahrscheinlich typisch für eine Gesellschaft, die zunehmend vom Freizeitmenschen geprägt wird. Der Arbeitsmensch, so wie ihn die Sulzer einst repräsentierte, verliert an Bedeutung.

Roter Faden fehlt

Das eigentliche Herzstück der Ausstellung ist die Präsentation von elf Testplanungs-Projekten des Katharina-Sulzer-Platzes. Die etwas lieblos an die Wände gehefteten Pläne mögen für Architekten interessant sein, für das Laienpublikum fehlen jedoch Erklärungen, die das Testplanungs-Verfahren in einen übergeordneten Zusammenhang stellen. Der rote Faden der Ausstellung ist sowieso ein Thema für sich. Einen klaren Aufbau gibt es nicht, der Besucher wird nicht anhand einer klaren Linie durch die Ausstellung geführt. Schön wäre es auch gewesen, mit diesem Raum zu arbeiten, ihn in die Ausstellung mit einzubeziehen, zumal es im hinteren Teil des Raumes auf einer kleinen Anhöhe eine Art «Beobachtungsposten» gegeben hat, der zu Fabrikzeiten wahrscheinlich dazu diente, die Arbeiter überblicken und kontrollieren zu können. Auf diese Weise hätte diese Industrienostalgie noch deutlicher gemacht werden können.

Die Ausstellungsmacher scheinen das gleiche Problem gehabt zu haben wie die unzähligen Planer und Architekten, die das Sulzerareal im Verlauf seiner neueren Geschichte als ihre Spielwiese betrachtet haben und sich gedanklich darauf austobten: Wohin mit diesem vielen Raum? Es scheint fast so, dass übermässig viel Raum in der Schweiz Überforderung auslöst. Jedenfalls repräsentiert das Chaotische dieser Ausstellung weniger die Vision des urbanisierten Menschen, sondern mehr dieser kreative Übergangs- und Ablösungsprozess, der den Wandel auf dem Sulzerareal die letzten Jahre vorangetrieben hat. Wandel lässt sich eben nicht planen, Wandel muss entstehen, mit den Menschen und aus ihnen heraus. Das urbane Wohn- und Lifestyle-Quartier bleibt jedenfalls zumindest vorerst eine Vision.

19. 06. 2006
Dieser Text ist unveröffentlicht und entstand im Rahmen einer Prüfung an der Zürcher Hochschule Winterthur (ZHW)

Montag, 9. Juli 2007

Winti – Mittelpunkt meines Universums

Eine Liebeserklärung

Was unterscheidet Winterthur von anderen Städten? Die Banalität dieser Frage würde nicht auf die Komplexität der Antwort schliessen. Denn was man liebt, ist bekanntlich am Schwierigsten zu beschreiben.


Winterthur ist die sechstgrösste Stadt der Schweiz. Eigentlich ein durchaus ansehliches Prädikat, das klingt doch nicht schlecht. Winti hat jedoch ein Problem: Die Stadt hat kein Wahrzeichen. Keine Burg, kein berühmtes Künstler-Haus, kein archetektonisches Meisterwerk - nichts, was die Massen anziehen würde oder einen Besuch wenigstens rechtfertigte. Das nach Plänen des Zürcher Architekten Oliver Schwarz erbaute Stadttor - jene Stahlgitter-Konstruktion am Hauptbahnhof - ist auch nicht viel mehr als ein netter Versuch, der Stadt nach rein objektiven Kriterien ein Gesicht zu geben. Die „Visitenkarte von Winterthur“, so der Werbeslogan, bereitet seit der Eröffnung im Jahr 2000 Probleme. Andere Städte in ähnlicher Grösse hingegen haben durchaus Sehenswürdigkeiten vorzuweisen, wie zum Beispiel St. Gallen mit seiner Stiftsbibliothek. Winterthur ist keine Stadt für Touristen. Winterthur ist eine Stadt zum Erspüren und Eintauchen. Das braucht Zeit.

Russ und Dreck in jüngster Vergangenheit

Noch vor 30 Jahren galt Winterthur als die grösste Industriestadt der Schweiz. Über 50 Prozent der Winterthurer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer war einst in der Schwerindustrie tätig und halfen tagtäglich mit, monströse Schiffsmotoren oder Lokomotiven herzustellen. Inzwischen ist der Russ und der Rauch von den Dächern Winterthurs abgezogen, und die leer stehenden Hallen des Sulzerareals werden von innovativen Köpfen vielfältig umgenutzt. Das Areal ist in ständigem Wandel und hat ein fast unerschöpfliches Potential. Auf einer Fläche so gross wie die Altstadt sind Restaurants, Bars, eine Musical-Halle, Internetfirmen, Handwerker und mit den Lofts an der Kesselschmiede nun auch der erste Wohnraum entstanden. Weitere Wohnungen befinden sich noch in der Bauphase. Der Fotograf Manuel Bauer wohnt im Sulzer-Gelände und bringt es im Winterthurer Stadtführer auf den Punkt: „Was mich von Anfang fasziniert hat, war die Stimmung auf dem Areal. Sie gibt einem das Gefühl, als würde gleich hinter der Ecke ein Hafen und das Meer liegen.“

Die richtige Grösse

Winterthurs Ruf als Büezerstadt dauerte lange Zeit an. Erst jetzt wird die Stadt von der übrigen Schweiz auch langsam als das wahrgenommen, was sie geworden ist: Eine Stadt im Begriff des Wandels und des Umbruchs. In der Altstadt schliessen und öffnen laufend neue Geschäfte und Restaurants. Die Vielfalt und Prosperität kann durchaus mit jener einer Grossstadt verglichen werden, und doch hat Winti eine angenehme Grösse: Die Anonymität einer Metropole ist im kleinen Ausmass gegeben, dabei bleibt die Stadt aber immer greifbar. Die Menschen, die in ihr wohnen, können zwar noch als Individuen wahrgenommen werden, gehen aber doch manchmal in der Masse unter. So passiert es mir in Winti dauernd, dass ich bestimmten Personen immer wieder begegne, sie überall sehe und sie doch nicht kenne. In einer Welt, die manchmal beinahe aus dem Ruder zu laufen droht, gibt mir das ein beruhigendes Gefühl der Sicherheit. Winti ist der Mittelpunkt meines Universums, weil mir diese Stadt so etwas wie Geborgenheit vermittelt, ohne mir meine individuelle Freiheit zu rauben.

Stil und Charakter

Vielerorts hört man immer wieder, dass in Winterthur das Gewässer fehlt. Diesen Gedanken griff vor ein paar Jahren der der Holzbildhauer Erwin Schatzmann auf, als er eine Volksinitiative für einen See in Winterthur einreichte. Der geplante Waldeggsee, der am Fusse des Eschenbergs erbaut werden sollte, wurde aber an von der Bevölkerung an der Urne klar verworfen. Winterthur verfügt jedoch auch so über ein Naherholungsgebiet, schliesslich ist die Stadt rundherum von Wald umgeben und hat mit dem Bäumli einen sehr romantischen Aussichtsplatz mit Blick über die ganze Stadt. Winti hat Stil und Charakter – auch ohne See. Das Einzige, was Winti fehlt, ist meiner Meinung nach ein Restaurant mit zwei oder drei ganz langen Tischen. Damit du auch einmal mit jenen Leute am gleichen Tisch sitzen kannst, die in derselben Stadt leben wie du und die man regelmässiger sieht als den Onkel oder die Grossmutter; mit denen man aber noch nie ein Wort gewechselt hat. Da nicht Winterthur sondern Zürich Dreh-und Angelpunkt des Kantons ist, bleibt Winti halt doch Provinz, weil sie Nischenkultur hervorbringt und entdeckt wird, friedvoll ist, lebt und Überraschungen bereit hält. Und wie bei allem, was wir lieben, ist es letztendlich die Mischung, die den Reiz daran ausmacht.


Erschienen im Dezember 2003 in sifon, die junge Zeitschrift Winterthurs

Anwälte der Strasse

Die Anzahl Sozialhilfeempfänger in Winterthur ist im Verhältnis zum Kanton rekordverdächtig. Der Verein setzt seit Jahren ein Zeichen und bereitet Randständigen in der pro Tag eine warme Mahlzeit. Ein Augenschein in Winterthurs Strassenszene.

Aus dem Nichts ist da plötzlich diese Treppe, die in den Untergrund führt. An Betonwänden und Stahltüren vorbei kommt man in einen Raum, der mit einigen Holztischen ausgestattet ist. Das Deckenlicht im Luftschutzraum ist grell, das Ambiente frostig und ungemütlich. Die Tischsets und das Besteck sind bereits auf den Tischen verteilt. Rita Keller Amberg, seit Anfang März Leiterin der , begrüsst die ersten Anwesenden warmherzig. Sie gibt allen die Hand, darauf legt sie besonderen Wert. . Ein Hund streicht den Neuankömmlingen um die Beine, der neuste Klatsch wird ausgetauscht. Seit Mitte April ist der Standort der vorübergehend in dieses Provisorium verlegt worden, weil die eigene Lokalität an der St. Gallerstrasse umgebaut wird. Die Zivilschutzanlage wurde von der Stadt zur Verfügung gestellt. Etwa ein halbes Jahr wird man hier verweilen müssen, abgeschnitten von Sonne und Wärme. Denn die Randständigen werden nicht gerne gesehen. Rita erzählt, dass bereits in den ersten Tagen Reklamationen ins Haus flatterten. Die Zivilschutzanlage befindet sich unmittelbar neben der Berufswahlschule, und die Schulleitung bemängelte, dass die Gassenleute nach dem Mittagessen an der frischen Luft eine Zigarette oder das eine oder andere Bier konsumierten. Rita erzählt: Obwohl sie ein gewisses Verständnis dafür aufbringen kann, hat sie Mühe mit der allzu augenscheinlichen Diskriminierung ihrer Gäste. Auch Trix, zweifache Mutter und Fürsorgeempfängerin, findet es daneben, dass man sie in den Keller sperrt. Sie ging selbst einmal in dieses Schulhaus zur Schule, gibt aber offen zu, dass sie . Trix ist heute für die Zubereitung der Mahlzeit zuständig. Diese Arbeit wird mit zwölf Franken entlöhnt, soll aber eigentlich kein Lohn sein, sondern mehr . Denn das Prinzip der ist es, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. , erklärt Rita. Heute gibt es Schweinsplätzchen mit Salat. Das kostet die Randständigen vier Franken, im Preis inbegriffen sind ein Getränk und eine Tasse Kaffee. Während man den Salat rüstet, wird über offene Wohnungen debattiert. Trix ist auf Wohnungssuche, was eine echte Knacknuss ist für Leute mit Suchtproblem. Vorübergehend konnte sie bei Freunden unterkommen, doch ihre zwei Kinder, zehn und fünf Jahre alt, mussten für die Überbrückungszeit bei einer Pflegefamilie untergebracht werden. Das hat ihr fast das Herz gebrochen.

Gassenmutter mit Herz

Drahtzieher der ist der Verein , bei dem Rita angestellt ist. Der Verein wurde im Jahr 2000 ins Leben gerufen und hat jährlich 60 000 Franken zur Verfügung, das sich aus Spendengeldern von Stiftungen und sozialen Institutionen zusammensetzt. Die Stadt Winterthur spendet einen jährlichen Beitrag von 5000 Franken. Von Zeit zu Zeit erhält die Spenden in Form von Naturalien, die in Restaurants oder nach Sitzungen nicht mehr gebraucht werden. Es kommen immer die gleichen Leute aus der Szene hierher. Rita kennt sie alle, und sie kennt auch deren Geschichten. Sie redet mit den Leuten, nimmt sie Ernst, leistet praktische Hilfestellung. Ab und zu fungiert sie als Vermittlerin zwischen den Behörden und ihren Schützlingen. , betont sie. Inzwischen ist es fast Viertel vor zwölf. Trix lässt Bratöl in die Pfanne tröpfeln. Ihre Bewegungen sind geschickt, sie ist flink und arbeitet routiniert. Sie ist dünn, sehr dünn. Doch das komme nicht vom fixen, sie sei schon immer so gewesen. Gesundheitlich geht es ihr im Moment gut, abgestürzt ist sie schon länger nicht mehr. Die ersten Leute treffen ein. Man klopft sich auf die Schultern, wechselt ein paar Worte. Die Leute sind sehr unterschiedlichen Alters, fast alle machen einen gepflegten Eindruck, nur die Kleider sind manchmal etwas schmutzig. In der Küche holt man sich seinen Teller, Rita nimmt das Geld entgegen. Ist jemand mal knapp bei Kasse, darf er trotzdem bleiben. Rita weiss, dass sie das Geld bekommen wird. Sie verhält sich freundlich, verständnisvoll und diskret. Über jeden hat sie etwas zu erzählen, ein junger, dunkelhäutiger Mann kann besonders gut Graffitis machen, ein anderer arbeitet Halbtags. Die meisten der Gäste jedoch leben von der Fürsorge oder der IV.

Anwalt der Strasse

In der Schweiz leben heute nach Schätzungen von Walter Schmid, Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) gegen
300 000 Menschen von der Sozialhilfe. Das sind 25 000 mehr als im Vorjahr. Im Kanton Zürich sind es 36 400 Personen, was einem Bevölkerungsanteil von 2,9 Prozent entspricht. In Winterthur macht es 4,2 Prozent aus, also 3937 Personen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Winterthur zieht arme Leute an. Einer, der die Szene so gut kennt wie kein zweiter, ist Max Zeller, seit 15 Jahren am Puls des Geschehens auf der Strasse. Der schwere Mann ist selber ein ehemaliger Alkoholiker, zwischen 1970 und 1980 war er alkoholkrank und hat sich nach eigenen Angaben selbst therapiert. , sei die Szene in Winterthur. Momentan gehören dieser Familie ungefähr siebzig bis achtzig Leute an. Max Zeller nennt seine Schützlinge , sieht sich als Anwalt der Leute auf der Strasse. Er verhandelt mit der Polizei, der Fürsorge, dem Stadtrat, ist vernetzt mit den Beratungsstellen, den Kirchen und der Strassenarbeit. Der 60-jährige Zeller ist wie auch Rita Keller Amberg vom Verein angestellt. Er war es auch, der die vor elf Jahren überhaupt initiiert hat. Inzwischen ist er nur noch auf der Strasse tätig, kümmert sich um das Wohlergehen der Leute am Musikpavillon. In der breiten Bevölkerung sei der Musikpavillon als Treffpunkt für Suchtkranke erstaunlich gut akzeptiert. Zur Akzeptanz beigetragen hat laut Zeller sicher auch der DOK-Film von SFDRS, der vor vier Jahren ausgestrahlt wurde. Annemarie Friedli hat darin Randständige vom Musikpavillon einige Monate begleitet. Mehr Unzufriedenheit als unter der Bevölkerung gibt es bei den Gewerbetreibenden rund um den Pavillon, wie dem Kaufhaus Manor oder dem Restaurant Steinfels. Sie beschweren sich über Umsatzeinbussen, weil ihre Kunden sich durch die Randständigen gestört fühlten. Ausserdem gab es beim Manor immer wieder Diebstähle. Des Lobes voll ist Max Zeller hingegen für die Stadtpolizei Winterthur. Es gebe einige, vor allem ältere Polizisten, die eine soziale Ader hätten und wirklich Verständnis zeigten für die Anliegen der Gassenleute. Trotzdem steht der Stadtrat unter Druck, im Herbst soll der Musikpavillon geschlossen werden. Die Drogenkommission müsse Zeller jetzt Vorschläge unterbreiten, wo der neue Treff für Suchtkranke eingerichtet werden soll. Wenn keine Alternative gefunden wird, bleibt die Szene, wo sie ist. Zeller: . Die Stadt mache ihre Sache so gut es gehe, doch der grössere Arbeitsanfall beim Sozialamt hinterlässt seine Spuren. Trix erzählt, dass ihr heute nur noch eine Viertelstunde Gesprächszeit bei ihrer Sozialberaterin gewährt wird, früher war es eine ganze Stunde. Ihr fällt auf, dass sie sofort anders behandelt wird, sobald eine Drittperson dabei ist. . Genau da setzt Zellers Arbeit an. Alle paar Monate nimmt er sich für jeden einzelnen eine Stunde Zeit. Das Gespräch ist ihm wichtig. Den Leuten mangle es oftmals nicht am Materiellen, sondern an menschlicher Wärme. Der sagt über seine , dass sie enorm sensibel und unsicher, oft auch misstrauisch seien. Zeller nimmt sie ernst, gibt ihnen ihre Würde zurück. In dieser Hinsicht ist Max Zeller auch ein geistiges Kind von Pfarrer Ernst Sieber. Zeller berührt seine Schützlinge gerne, so wie es Ernst Sieber immer zu tun pflegt. Die Grenzen richtig abzuschätzen, sei bei seiner Form von Gassenarbeit jedoch manchmal schwierig.

Mit winzigen Schritten und Engelsgeduld

Der gewichtigste Begleiter auf der Strasse ist und bleibt aber immer der Konsum, die Sucht. Von Zellers Standpunkt aus ist die Abstinenz eher unrealistisch. Ziel muss es sein, die Leute zum massvollen Konsum von Alkohol oder anderen Suchtmitteln zu bewegen. Man müsse lernen, mit seiner Sucht zu leben. Inzwischen ist es ruhiger geworden in der . Heute hatte es eher weniger Gäste, normalerweise sind es um die zwanzig. Nach dem Essen machen sich alle schnell davon, schliesslich spiele sich der Sonnenschein draussen ab, wie einer der Gäste es ausdrückt. Rita sitzt noch mit einigen wenigen plaudernd am Tisch. Im Luftschutzkeller wird es langsam kühl. In einem kühlen Umfeld warme Herzen erzeugen. So könnte man die Arbeit von Max Zeller und Rita Keller Amberg beschreiben. Die elfjährige Existenz ihrer gibt ihnen Recht.

31.08.2005

Diese Reportage entstand anlässlich eines Wettbewerbs der Zürcher Hochschule Winterthur (ZHW) und wurde aus insgesamt hundert Arbeiten ausgewählt als eine der neun nominierten Reportagen für den Siegerplatz. Der Text wurde nie in einer Zeitung veröffentlicht.

Samstag, 23. Juni 2007

Bäuche, behaarte Beine und Pong-Pongs

Mit Miniröcken in die neue Saison: Die Fankurve des FC Winterthur hat ihre Mannschaft am Samstag gegen den FC Vaduz als eher maskuline, aber durchaus engagierte Cheerleader-Truppe angefeuert.

Die gleissende Abendsonne bescheint den Rasen, als zwölf stramme Mannen im Röckchen galant und federnden Schrittes die Schützenwiese betreten. Im Spiel des FC Winterthur gegen den FC Vaduz ist gerade Halbzeit, es steht unentschieden 1:1. Die Mannen sind keine Fussballspieler. Sie sind auch keine Zirkusartisten. Es sind Cheerleader. Genauer gesagt sind sie die erste hochoffizielle Cheerleader-Truppe des FC Winterthur – bestehend aus lauter Männern. Wie in jeder Cheerleader-Performance darf vor allem eines nicht fehlen: Die Pong-Pongs, auch unter dem Namen «Büschel» bekannt. So wedeln also zwölf junge Männer ihre Pong-Pongs im Wind: Bärtige, langhaarige, schlanke oder wohlgenährte Mannen sind es, gekleidet in ein weiss-rotes Röckchen, das Shirt spielerisch in der Hüfte hochgeknüpft. Fussballerstulpen und filigrane Geräteschuhe zieren die strammen Waden. Angefeuert von den Rufen der begeisterten Zuschauer auf der Tribüne eifern die Männer den amerikanischen Originalen nach: Der Po wird geschwenkt und die Hüfte gekreist, alles schön synchron. Nach diesem schweisstreibenden «Gehopse» lässt sich das Ensemble ausgiebig feiern: Die Männer drehen Runden im Stadion als hätten sie gerade den WM-Titel geholt. Die kindliche Freude ist heiter und ansteckend.

Hochmotivierte Cheerleaders

Claudia Ammann ist Teil jener Clique, die sich jeweils während Fussballspielen des FCW zur Unterstützung der Mannschaft im Stadion versammelt. «Bierkurve» nennt sich diese alternative Fangruppierung. Und Ammann war es auch, welche die flotten Herren gecoacht hat und ihnen während mehrerer Trainingsstunden auf der Schützenwiese mögliche Schritte vorgezeigt hat. Die Truppe scheint sogar einen gewissen Ehrgeiz entwickelt zu haben, denn «manchmal haben wir auch im Regen geübt», erzählt Ammann. Sie habe jeden Schritt schriftlich festgehalten und einige hätten das Papier sogar mit in die Ferien genommen, um sich umfassend auf den Auftritt vorzubereiten. Insgesamt fünfzehn Helferinnen haben in abendfüllender Fronarbeit Mass genommen, Stoff ausgesucht und Röcke genäht. Zwei Abende pro Woche hätten die Näherinnen im letzten Monat von ihrer Freizeit geopfert, und Ammann selbst hat in fünfzehnstündiger Kleinstarbeit vor dem Fernseher 38 Meter Stoff in Pong-Pong-gerechte Zwei-Zentimeter-Stücke geschnitten.
Hat der FC Winterthur nun eine regelmässige Cheerleader-Truppe? Claudia Ammann winkt ab: «Das war eine einmalige Sache.» Inzwischen sind die Cheerleader zurück auf den Stehplätzen und präsentieren sich in voller Montur. Einige heben den Rock, weisse Unterhosen blitzen hervor. Der Rollentausch gefällt. Doch auch die originelle Unterstützung verhilft dem FCW nicht zum Sieg. Zumindest in Sachen kreativer Fans belegt Winterthur einen Spitzenplatz.

Erschienen im Landbote, 25. Juli 2005

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