Unsere Schweiz

Mittwoch, 14. Juli 2010

Peace country Switzerland

Ich mag es, Menschen Willkommen zu heissen. In meiner Tätigkeit als Passagierbetreuerin am Flughafen sehe ich es als Teil meiner Aufgabe. Für meine Passagiere bin ich die Brücke in die neue Welt, die sie gleich betreten werden. Ich schaue in die neugierigen, offenen Gesichter mit den wachsamen Augen und bin mir meiner Verantwortung bewusst. Die Verantwortung für einen gelungenen Start. Meistens unterhält man sich über Leichtes. Den vergangen Flug. Das Wetter. Ferienpläne. Die Passagiere lassen sich gerne durchs Gespräch führen. Doch manchmal kommt es vor, dass jemand ganz unverhofft die gefürchtete Frage stellt, die eigentliche Killerfrage: «Do you love Switzerland?» Für einen Moment stockt mir der Atem. Wie kann man auf so eine Frage nur ansatzweise eine angemessene Antwort geben? Ich bin schon bei Menschen überfordert, wie kann ich da einem Land in meinem Urteil gerecht werden, noch dazu meinem eigenen? All meine Vorväter waren bereits Eidgenossen, ich habe nichts anderes, worauf ich mich berufen kann, keine fremdartigen Wurzeln haben meine Gene mitgeprägt. Mein Stammbaum ist ein knorriger Apfelbaum ohne jeglichen Hauch von Exotik.

Ich weiss nicht, ob ich die Schweiz liebe. Aber ich liebe die Fahrt mit der Rhätischen Bahn von Landquart nach Davos. Ich liebe das rhythmische Rattern, wenn der Zug nach jedem Drehtunnel an Höhe gewinnt, ich liebe es, wie sich der rote Pfeil durch die dicht bewaldete Landschaft schlängelt, insbesondere im Winter, wenn die Tannenzweige unter dem Gewicht der Schneemengen ächzen. Ich liebe die winzigen Bahnhofhäuschen, die von Zeit zu Zeit zu beiden Seiten auftauchen, mit Zinnen aus Holz und so schönen Namen wie «Cavadürli» oder «Laret». Im Gehörgang das «plopp» des Druckausgleichs. Die 1500 Meter über Meer sind bald erreicht. Nach unzähligen Kurven kommt irgendwann die letzte Kurve, bevor sich die Landschaft in die Ebene öffnet und der grünlich schimmernde Davosersee vor dem Zugfenster erscheint. Die Veränderung der Landschaft ist das Zeichen, dass sich die Fahrt bald ihrem Ende zuneigt, die Bahn ihr Ziel erreicht hat: Davos, die höchst gelegenste Stadt Europas mit ihren drei Seitentälern und der Luft, so frisch und rein, dass sie für Lungenkranke einst letzte Chance auf Heilung war.

Der Satz «Ich liebe die Schweiz» kommt niemandem leicht über die Lippen. Er will nicht so ganz zu einem der unpatriotischsten Völker dieser Erde passen. Selbst Personen, die Militärdienst geleistet haben, können den Text der Schweizer Nationalhymne nur in Ausnahmefällen auswendig. Dabei sagt der Hymnentext bereits so viel aus über die Schweiz. «Unsere» Nationalhymne hat nichts Triumphales, kein Säbelrasseln wie vielerorts sonst, keine Kriegsverherrlichung wie man sie anderswo findet. Der «Schweizer Psalm» ist ein Gebet und gleichzeitig eine Anrufung an die Schönheiten der Natur. Von «Morgendämmerung» ist da die Rede und von «Abendglühn», von «Strahlenmeer» und «Nebelflor». Ja, naturverbunden sind wir alle auf die eine oder andere Art. Bodenständig. Wandern oder Ski laufen ist in Schweizer Familien als Freizeitprogramm gesetzt. So wie mein Grossvater, der im Jahr 1927 an einem Brief an seine Schwester schrieb:

«Jetzt marschierten wir dem Höhenweg nach. Das war sehr fein zu laufen. Es ging immer gerade. Im Augenblick waren wir ob dem Mäder. Dort liessen wir ein paar Jauchzer los. Bald war eine Stunde verflossen. Das Znüni war auch bald geschmaust.»
27.08.1927 Jakob Prader an einem Brief an seine Schwester Maria Prader


Der Schweizer jauchzt vor Glück über die Herrlichkeiten der Natur, die ihn umgeben – und dann schmaust er noch seinen «Znüni»... was für ein liebreizendes, unbedarftes Völklein! Des Schweizers Blick auf die Welt ist von Liebenswürdigkeit geprägt. Er schätzt die kleinen Dinge. Noch heute versieht jeder Schweizer Bauer seine Milchkuh mit einer Glocke. Einerseits macht er das aus rein praktischen Gründen. Türmt sie, kann sie mit Hilfe der bimmelnden Glocke geortet werden. Gleichzeitig kommt es aber auch einem schmücken gleich. Der Bauer staffiert seine Kuh aus, die Glocke hängt an einem farbenfrohen Band, es ist eine Art Ehrerbietung, er baut eine Beziehung zu ihr auf, schliesslich nährt sie ihn und sichert das Auskommen seiner Familie. In Puerto Rico oder Argentinien sind Kühe «Vieh», sie werden gemästet, sind von Anfang an für den Verzehr gedacht, sehr nüchtern, sehr prosaisch. Ihnen eine Glocke anzulegen würde den Bauern dort niemals einfallen. Der Schweizer «hebed Sorg», zu dem, was ihm anvertraut wurde. Das zeigt sich auch an unserem Umgang mit dem Dreck, den wir hinterlassen: Wir sind Weltmeister in der Abfalltrennung, auch das kleinste Papierfetzchen tragen wir solange mit uns herum, bis wir einen Abfalleimer dafür erspäht haben. Selbst im Ausland, wo meistens lockere Abfallsitten herrschen, widerstrebt uns «littering» von ganz, ganz tief innen her.

Ich weiss nicht, ob ich die Schweiz liebe. Aber ich liebe die Schweiz dafür, dass ich als Frau mitten in der Nacht durch die Stadt gehen kann und mich absolut sicher fühle. In der Schweiz herrscht Frieden, so gross, dass man ein neues Wort dafür erfinden müsste. Die Schweiz hat sich in ihrer Verfassung zur Neutralität verpflichtet und hat eine lange humanitäre Tradition. Swisscoy und andere Friedenstruppen leisten wertvolle Arbeit zur Sicherung des Friedens in kriegsgeschüttelten Regionen. Der Frieden ist der Schweiz viel Wert. Doch hatte die Schweiz jemals eine andere Wahl? Geografie bedeutet gleichzeitig Schicksal, und im Falle der Eidgenossenschaft heisst das: Durch ihre geografische Lage als kleines Alpennest, umgeben von Ländern so viel grösseren Ausmasses, fand sie sich fast zwangsläufig immer irgendeiner Bedrohungslage ausgesetzt. Kooperationswille wird unter diesen Bedingungen zum puren Überlebensinstinkt. Die Schweiz möchte es gerne allen Recht machen, ihr fehlt den Mut für den klaren Schnitt und die unpopulären Entscheide. Die Schweiz hat etwas Kleinherziges, Feiges. Sie ist die Katze Aug in Aug mit der Würgeschlange – als einziges Tier bewegt sich die Katze auf so leisen Sohlen, dass sie von der Schwarzen Mamba unentdeckt bleibt. Um nicht vom grossen Feind entdeckt und kalt gestellt werden, veranstaltet die Schweiz keinen unnötigen Lärm. Sie kuscht, schlängelt sich durch.

Die schweren Anschuldigungen aus dem Ausland der jüngsten Zeit haben der Schweiz arg zugesetzt. Vorwürfe stehen im Raum: Der Schweiz wird angelastet, dass sie sich zur Sicherung ihres Wohlstands unlauteren Methoden bedient, Vermögen von Steuerflüchtlingen hortet und die Reichtümer von Schurken auf Nummernkonti lagert, was ihre Machterhaltung überhaupt erst ermöglicht. Die Schweiz muss sich wandeln – doch die Schweiz hat ihren ganz eigenen Zugang zum Wandel. Sicherheitsdenken hat hier hohen Stellenwert, das auf Konsens ausgerichtete, politische System verhindert plötzliche Umstürze, die Schweiz hat etwas ausgesprochen Bewahrende an sich. Das Gotthardmassiv steht symbolisch für dieses Unverwüstliche an der Schweiz - aber gleichzeitig auch für das Starre, Statische.

Wie so ganz anders verhalten sich Einwanderer. Menschen aus Ländern des Südens kommen hierher und ziehen aus dem Nichts einen Gemüsehandel, eine Frittenbude oder ein florierendes Baugeschäft auf. Ohne Managerkurs, ohne Businessplan, aber mit einer Extra-Portion Feuer, Willenskraft und Tüchtigkeit. Tüchtig sind wir Schweizer auch, aber es fehlt uns an der nötigen Leichtigkeit und der richtigen Einstellung in Bezug auf das Scheitern. Ein Plan scheitert in seiner Umsetzung? Schwamm drüber und her mit einem neuen Plan! Der eben verstorbene Swatch-Gründer Nicolas Hayek stand für diese in der Schweiz so rar gesäte Tatkraft und Entschlossenheit. Das hat ihn zu einem erfolgreichen Unternehmer gemacht. Und zu einer Persönlichkeit. Bezeichnend ist, dass auch Hayek einst aus dem Libanon eingewandert ist. Einfach mal loszulegen ist ein ausgesprochen unschweizerisches Verhalten. Hierzulande werden Risiken abgewägt, Zeitpläne erstellt, Umsatzprognosen gemacht. Wir sind ein gehemmtes Volk, von tief innen her constipated.

Dafür sind wir gute Denker. Bildung hat hierzulande einen hohen Stellenwert, in punkto Chancengleichheit steht die Schweiz weltweit an erster Stelle. Das hiesige Schulsystem erlaubt auch Kindern aus der Arbeiterklasse eine Karriere als Arzt oder Forscherin. Die Freiheiten, die dem Einzelnen in der Schweiz gewährt werden, sind einzigartig. Doch leider verhindert ein gewisses geistiges Klima, das wir sie nutzen könnten. Es ist hierzulande nicht besonders gern gesehen, wenn jemand nach den Sternen greift und seine eigenen Ideen umsetzt. Jemand, der die Komfortzone verlässt und sich zu neuen Ufern aufmacht, wird gerne als Nestbeschmutzer angesehen. Gerade junge Menschen erleben oftmals erst im Ausland, wie Leute ihre Ideen verwirklichen, wie viel Spass das macht und wie selbstverständlich es ist. Ein solcher Impuls aus der Fremde kann für die persönliche Entwicklung und für den weiteren Verlauf der Berufslaufbahn absolut wegweisend sein.

Es ist deshalb wohl kein Zufall, dass viele Schweizer im Ausland beruflich Erfolg haben. Im Ausland wird es plötzlich zur wohltuenden Selbstverständlichkeit, in grösseren Dimensionen zu denken. Etwas, wofür man sich in der Enge der Schweiz immer irgendwie rechtfertigen musste. Zudem bringen Schweizerinnen und Schweizer Qualitäten mit, die in der Geschäftswelt gefragt sind und wiederum für sie selbstverständlich sind: Korrektheit, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit. Etwas überspitzt formuliert könnte man also sagen: «Wenn man nicht hier geboren ist oder nicht dauernd hier gelebt hat, ist die Schweiz das perfekte Land.» Doch schliesslich hat jeder Ort das Potential, etwas Gutes hervorzubringen. Auch auf ein bisschen Staub können Kartoffeln wachsen.

Donnerstag, 23. April 2009

Wär häts erfunde??

Wir Schweizer haben ja bekanntlich ein hochgradig pathologisches Verhältnis zu unserer Agenda. Manchmal nimmt dieser Wahn schon beinahe kultische Ausmasse an. Das fängt allein schon bei der Verfügbarkeit an: Gewisse Leute haben ihre Agenda – ob sie nun im Ausgang sind oder beim Kaffeeklatsch – einfach immer dabei. Kommt man zufällig auf Daten für Geburtstagsfeste, Konzerte oder den Töpferkurs zu sprechen, wird das Fetischobjekt blitzschnell auf den Tisch geklatscht, als hätte man sich untereinander abgesprochen. Mit religiösem Eifer blättern die Agenda-Fetischisten darin, als gelte es einen Contest zu bestehen. Ein Hauch Unterwürfigkeit liegt in ihrer Stimme, wenn sie sagen: «Ich muss zuerst in meiner Agenda nachschauen.» Spontan eine Einladung annehmen? Undenkbar. Mit der Agenda managen wir das Projekt, das unser Leben bedeutet. Sorgfältig und ordentlich notieren wir in dem kleinen Büchlein, bis wann die Abgabe der Präsentation fällig ist, in welcher KW (Kalenderwoche) der nächste Arzttermin ansteht, wann Zeit ist für Ferien, Freunde, den Geliebten. Mit einer Agenda pressen wir unser Leben in ein Raster. Wir besitzen unsere Agenden nicht, wir glauben an sie.

Die Terminfindungsplattform Doodle hat diesem Planungsfieber die Krone aufgesetzt. «Wär häts erfunde?» Richtig: Die Schweizer. Welch Überraschung. Seither wird nicht mehr nur gegoogelt, sondern vor allem gedoodelt ¬- quer durch alle Gesellschaftsschichten. Als kleine Projektmanager auf unserer ewigen Suche nach freien Zeitfenstern geben wir uns dabei oftmals der Lächerlichkeit preis. Doch wir merken es nicht, denn die Krankheit wurzelt im System. Eine Agenda hilft uns dabei, unsere Zeit möglichst nutzbringend zu gestalten. Das ist an sich ja nichts Schlechtes. Doch eine volle Agenda muss nicht unbedingt heissen, auch ein erfülltes Leben zu haben. Manche Menschen rennen von einem Termin zum nächsten, nur weil sie nicht wissen, wohin sie eigentlich wollen mit sich und ihrem Leben. Menschen in Entwicklungsstaaten besitzen keine Agenden, der Überlebenskampf lässt sich nicht in ein Zeitraster einteilen. Wir hingegen versuchen, aus dem Chaos, das unser Leben bedeutet, mundgerechte und verdaubare Häppchen zu machen ¬¬– weil wir mit so viel prallem und unverplantem Leben schlicht rettungslos überfordert wären?

Eine Agenda ist ein sehr persönliches Dokument für die Planung unserer unmittelbaren Zukunft. Sind die Tage verstrichen, werden die Einträge wertlos, der Zweck der Agenda ist erfüllt. Trotzdem haben wir darin – meistens ohne uns bewusst zu sein – Zeugnis abgelegt, wie wir unser Leben leben. Und dann auch wieder nicht. Ausser «Minigolf spielen mit Andrea» oder «Reminder: Arbeitsplan abgeben» ist das einzige, was es über unser Leben unter dem Strich zu sagen gibt. Deshalb frage ich mich manchmal, ob es nicht genauso wichtig wäre, neben der Agenda, die wir mit so viel Eifer führen, eine Art Reflexionsbuch für das hinter uns liegende anzulegen. Von Zeit zu Zeit inne zu halten sollte doch mindestens genauso selbstverständlich sein wie ein gelungenes Agendasetting. Ich jedenfalls würde gerne in einer Parallel-Agenda über mein Leben lesen: «Die ersten Krokusse spriessen im Garten.» Oder: «Ein überwältigendes Morgenrot gesehen.» Oder: «Warum können Pinguine nicht fliegen?» Denn Daten sind nur Daten. Erst wenn sie mit Sinn gefüllt werden, bekommen sie eine Seele.

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