Indischer Alltag

Mittwoch, 2. Dezember 2009

Auf dem Kartografen-Kongress

Auf europäischen Weltkarten befindet sich Europa im Zentrum der Karte. Betrachtet man eine amerikanische Weltkarte, ist der amerikanische Kontinent in der Kartenmitte. Das Zentrum unserer Welt scheint also eine Frage des Standpunkts zu sein, auf internationalen Kartografen-Tagungen aushandelbar wie die Relevanz des Reliefs. Was würde nun geschehen, wenn wir für die Dauer eines Lidschlags Indien ins Zentrum der Karte, und damit ins Zentrum der Welt setzen würden?

In einem Punkt sind sich die Kartografen schnell einig: Indien lässt sich kaum mit westlichen Massstäben messen. Die Bedingungen, denen das Land unterworfen ist − die riesige Ausdehnung, die Überbevölkerung, das Klima − sind so extrem, dass sich Indien eigentlich nur anhand seiner eigenen Massstäbe messen lässt. Besucher aus dem Westen zeigen sich oftmals schockiert über den chaotischen Verkehr. Doch für Indien ist nicht von Belang, wie gut der Verkehr fliesst, für Indien ist einzig entscheidend, dass er fliesst. Indien ist, um auf Gerichtssprache zurückzugreifen, in jeder nur erdenklichen Hinsicht ein Präzedenzfall.

In den letzten Jahren hat Indien einen regelrechten Boom erlebt, die Wachstumsraten sprengen die kühnsten Erwartungen, der Mittelstand wächst, der Kontrast zwischen alt und neu ist bemerkenswert, ebenso wie die die Kluft zwischen Arm und Reich. Doch auch im modernen Indien hat sich eines nicht geändert. Indien – das sind vor allem Menschen. Jedes andere Land wäre von so viel MENSCH und so viel sozialer Ungleichheit längst kollabiert. Obwohl dem Leben jedes Einzelnen bei einer Bevölkerungsanzahl von geschätzten 1,1 Milliarden nicht mehr die gleiche Bedeutung beigemessen werden kann, trotz grossem Hunger und bitterer Armut, kann eines nicht unter den Tisch gekehrt werden: Indien pulsiert, ja strotzt geradezu vor Leben, vor Energie! Die ungeheure Vielfalt an allem, was das Leben hergibt, macht die Faszination dieses Landes aus.

Mehr Phänomen denn Land
Doch eigentlich ist es vermessen, von «einem» Land zu sprechen. Indien beherbergt viele Länder in einem, jede Region hat wieder ihre eigenen Bräuche und Mythen, ihre ganz eigenen Gerichte, eine andere Art sich zu kleiden, andere Götter.... Indien ist viel weniger ein Land als ein Phänomen. Nur was taugt ein Phänomen schon als Ordnungsbegriff? Man kann sich bildhaft vorstellen, wie sich unsere Kartografen verzweifelt die ergrauten Haare raufen. Der Präsident der Kartografenvereinigung lässt eine dringliche Sonderkommission einberufen, die sich einzig und allein mit der Frage auseinandersetzen soll, wie sich das «Phänomen Indien» vernünftig kartografisch darstellen liesse. «Vielleicht mit Hilfe eines Symbols?», schlägt ein eher stiller Kartograf vor. «Gute Idee!», lobt der Vorsitzende der Kommission.

In Indien hat fast alles eine Symbolik. Das zinnoberrote Pulver, das sich verheiratete Frauen oberhalb der Stirn in den Haaransatz reiben, ist nur ein Bruchteil dessen, was die hinduistische Kultur an Symbolen zu bieten hat. Bei einer Geschäftseröffnung halten auch die modernsten Inder eine «Puja» ab; eine Anrufung der Götter, dass die Unternehmung einen erfolgreichen Verlaufen nehmen möge. Überhaupt Neuanfänge: Bei Geburten, Projektanfängen oder vor wichtigen Entscheidungen holt man sich im Tempel den Segen. An Geburtstagen trägt man neue Kleider, und sogar den Wochentagen ist eine Bedeutung zugeschrieben: Der Montag ist der Tag Shivas, der Dienstag «gehört» dem affenköpfigen Hanuman und so geht es weiter durch die ganze Woche. Wer auf besonderes Wohlwollen einer der Götter hofft, fastet am entsprechenden Tag oder isst zumindest kein Fleisch.

Die hinduistische Kultur versteht es wie keine zweite, dem Leben eine tiefere Bedeutung zu geben. Denn was sind Rituale und Symbole anderes als eine Möglichkeit, das Leben kostbar zu machen? Rituale hauchen dem Moment mehr Leben ein und damit mehr Sinnhaftigkeit.
Spiritualität und das Hamsterrad des Alltags liegen nirgends näher zusammen als in Indien, sie sind sosehr ineinander verflochten, dass niemand auf die Idee kommen würde, darin etwas Verwerfliches zu sehen. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Inder ihre Religion praktizieren und damit ihrem Bedürfnis nach Spiritualität Rechnung tragen, ist bemerkenswert. Ohne – und das muss an dieser Stelle besonders herausgehoben werden - im Geringsten ideologisch zu sein.

Alles im Fluss

Doch würde es Indien überhaupt kratzen, wenn es plötzlich zum Nabel der Welt erklärt würde? Wohl kaum. Indien würde es zur Kenntnis nehmen. Und damit hätte es sich. Indien und damit die Inder lassen sich nicht so schnell von irgendetwas beeindrucken. Diese Geisteshaltung ist bewundernswert, doch mit Gleichgültigkeit hat sie nichts zu tun. Manche sagen, sie entspringe einer extremen Form von Gottesgläubigkeit. Doch vielleicht rührt sie auch einfach von der Erfahrung her, dass sich im Minutentakt sowieso wieder alles ändern kann.

Die hinduistische Gesellschaft ist geprägt von einer ungeheuren Dynamik. Das lässt sich anhand eines einfachen Beispiels aus der Mobiltelefonindustrie verdeutlichen: Indien ist der am schnellsten wachsende Mobilfunkmarkt der Welt, bereits heute ist die 500-Millionen-Marke von Mobiltelefonnutzern erreicht und sollte bereits 2014 die Milliarden-Grenze sprengen. Für Länder wie Indien wurde das Mobiltelefon geradezu erfunden, weil es Raum lässt für Unvorhergesehenes. Auch die Schweizer oder die Deutschen loben sich sicherlich das tragbare Telefon. Doch genau genommen will es sich nämlich nicht so recht einfügen in unserer Kultur, da ein durchschnittlicher Angestellter an viel zu vielen Sitzungen teilnimmt, an denen er das Mobiltelefon dann trotzdem wieder ausschaltet. Inder sind ständig erreichbar. Rund um die Uhr. So etwas wie eine Combox existiert nicht. Warum auch, bis der Empfänger seine Nachrichten abgehört hat, ist die Botschaft bereits wieder veraltet. Alles im indischen Alltag geschieht immer aus dem Moment heraus.

Während es in Europa relativ verpönt ist, seine Pläne zu ändern, passiert das in Indien ständig. Was in Europa als Schwäche ausgelegt wird, bedarf in Indien nicht mal einer Entschuldigung. Das ist nicht Wankelmütigkeit, sondern Überlebensstrategie: Sich veränderten Lebensumständen anzupassen, kann in Indien unter Umständen überlebenswichtig sein. Nur wer stur an seinen Plänen festhält, gilt in Indien als schwach. Das macht die Inder auch zu formvollendeten Improvisationskünstlern. Selbst wenn im ersten Moment etwas unmöglich scheint, wird es irgendwie möglich gemacht. Ein kategorisches «nein» existiert nicht.
Eine knappe Mehrheit unter den Kartografen vertritt daher auch dezidiert die Meinung, dass Indien anstatt Amerika «das Land der unbegrenzten Möglichkeiten» sein sollte. Indien ist «artwork in process», ein Kunstwerk, das einem ständigen Wandel unterworfen ist.

India changes you

Bei dieser Ausgangslage erstaunt es wenig, dass Indien Menschen magisch anzieht, die sich neue Impulse für ihr Leben erhoffen. Die in ihren eigenen Mustern gefangen sind. Etwas abschätzig könnte man hier von Esoterikern und anderen Sinnsuchenden sprechen. Aber auch wer keine Berührungspunkte mit Spiritualität kennt, dem soll gesagt sein: Indien hat ein riesiges Potential für Veränderung. Oder um es mit den Worten der Soziologin Ursula Baumgardt auszudrücken: «Kontinuierlich bis zum heutigen Tag nimmt der Hinduismus Neues auf, d.h. er hat eine für uns kaum nachvollziehbare Kraft der Erneuerung.» Wer richtig eintaucht in diese «indiness», als Gast und nicht bloss als Besucher gegenwärtig ist, wird sich dem Sog der Veränderung unmöglich entziehen können. Indien schafft neue Räume im Innern, Gedanken gehen auf Wanderschaft und eingefahrene Denkprozesse werden gehörig auf den Kopf gestellt.

«Da muss was dran sein», räumt der Präsident der Kartografenvereinigung nachdenklich ein. Und er erhebt sich von seinem Platz, nimmt einen dicken Filzschreiber und zeichnet eine grosse Sonne auf das Flip-Chart. «Wie die Sonne hat auch Indien grosse Kraft zur Veränderung», setzt er an. «Deshalb soll Indien auf der Weltkarte in Zukunft mit einer Sonne dargestellt werden», bestimmt er. Denn: India changes you.

Mittwoch, 20. Juni 2007

Ein Land wie ein überdimensionaler Rummelplatz

Einer meiner indischen Freunde war ehrlich erstaunt zu hören, dass ich mich in einer Millionenstadt wie Delhi mit ihrem chaotischen Strassengewimmel und dem Verkehrslärm wohl fühle. «you come from paradise!» hat er bestürzt ausgerufen. Was auf der Welt machst du also hier?, bedeutete er mir lachend. Doch eine Verdammte aus dem Paradies bin ich definitiv nicht, eher wohl eine Gestrandete der Liebe. Meine Liebe zu Indien machte den Umweg über einer seiner Bewohner. to-bowIm Prinzip hätte es auch irgendein anderes Land sein können. Nicht ich habe mich für Indien entschieden - Indien hat sich für mich entschieden. Auf den ersten Blick ist Indien in vieler Hinsicht das pure Gegenteil der Schweiz: Chaos versus Systematik, Aberglaube versus Rationalität, Langsamkeit versus Effizienz, Schmutz versus Sauberkeit. Niemand aus der westlichen Welt macht den Schritt zum Aufbruch Richtung Subkontinent ohne dass der Weg wenigstens einen kurzen Moment lang überschattet wäre von der Angst des eigenen Mutes. Ich habe viele Menschen ankommen und abreisen sehen in den vergangenen sieben Monaten. Eine Frage, die ich dabei meistens gestellt habe, ist die Frage nach dem Warum. Warum Indien? Die häufigste Antwort lautet: «Nach Indien wollte ich schon immer mal». Indiens Attraktivität auf den Betrachter gründet auf seinen farbenfrohen Strassenszenen, die Schönheit seiner Menschen, vielleicht das scharfe Essen. Die Würze verleiht dem Leben den Geschmack. Indien ist die perfekte Abwechslung vom Alltag.

Wenn man jedoch für längere Zeit an einem Ort ist, sind es wie überall die Menschen, die einen Ort bewohnbar machen. Es sind die Umstände die darüber entscheiden, ob eine Zeit an einem Ort glücklich verläuft oder nicht. Ich hatte das Privileg ein paar gute Lehrer anzutreffen auf meiner Erkundungsreise durch ein Land, in dem es keine Stille gibt. Dadurch, dass ich hier ein emotionaler Rettungsanker gefunden hatte, eine Anlaufstelle, ein Stück Geborgenheit im Fremden, konnte ich mich Indien uneingeschränkt öffnen. Ich bin eingetaucht in diese Welt, Hals über Kopf – und dennoch habe ich nichts verstanden. Indiens Anderssein ist ein Anderssein im 3D-Format - es geht in alle Richtungen. Von den schneebedeckten Gipfeln des Himalajas hinab auf den Meeresspiegel und dann von aussen nach innen – weit, weit nach innen.

Ich kann mich gut an die ersten Tage meines Aufenthalts hier erinnern. Damals ist mir vor allem diese eigenartige Form von Unbeeindrucktheit aufgefallen, die die Inder so auszeichnet und die ich sofort zu übernehmen versuchte, weil ich sie für überlebenswichtig hielt. Es ist eine Geisteshaltung. Soll man es Unerschütterlichkeit nennen? Busse, die vor Menschen fast aus ihren Nähten platzen, unhygienische Toiletten, eine Versammlung von Wildschweinen, Kühen und Hunden die sich um einen Berg Müll versammeln…nichts kann die Menschen hier beeindrucken. Inzwischen habe ich mir nicht nur diese innere Haltung angewöhnt. Besucher aus der Schweiz haben mich ausgelacht, weil ich mir diese für Indien so typische Kopfbewegung angewöhnt habe, die für uns wie ein Kopfschütteln aussieht, in Indien jedoch als Nicken gemeint ist – es ist wie ein kurzes Zwicken aus der Halsregion heraus.

Das Bedürfnis sich verhaltenstechnisch anzupassen um weniger aufzufallen ist gross. Ich schäme mich dafür, dass ich während meiner Zeit hier nicht mehr Hindi gelernt habe. Die Assimilation findet hier jedoch nicht so sehr wie bei uns über die Sprache statt, sondern viel eher über den Verkehr. Wer gelernt hat, sich im chaotischen Strassenverkehr reissverschlussartig einen Weg auf die andere Strassenseite zu bahnen, hat erkannt, was es heisst, in Indien zu leben. Wer sich dann noch hinters Steuer setzt, hat die Aufnahme endgültig geschafft.

Was mich immer wieder von neuem in Staunen versetzt, ist die Tatsache, mit wie viel Begeisterung und Freude man in Indien als Ausländer Willkommen geheissen wird. Besucher werden regelrecht auf Händen getragen. Kein einziges Mal bin ich auch nur im Ansatz mit Rassismus in Berührung gekommen. Die Inder sind untereinander – je nach Kaste – weit mehr rassistisch als gegenüber Fremden. Die Leute hier haben mich in ihre Sitten eingeweiht ohne den kleinsten Ansatz von Angst, ich könnte ihnen dadurch etwas wegnehmen. Indien ruht auf eine schöne Weise in sich selbst.

Aus der Distanz betrachtet wirkt die Schweiz auf mich je länger wie mehr wie eine Bilderbuchwelt. Ich beginne die Schweiz genauso zu verklären wie der besagte indische Freund. Doch in gewissen Situationen fühlt man sich auf eigenartige Weise in die Heimat zurück versetzt. Es kann vorkommen, dass man hier abends mitten auf einer Strasse Zeuge einer rührenden Szene wird, wenn eine Mutterkuh mit ihrem Kälbchen auf den Betonstrassen trabt, dann abrupt anhält und ihr Kälbchen säugt. Plötzlich schwinden die Unterschiede zur Schweiz. Der einzige besteht darin, dass die Szenerie nicht auf einer saftig-grünen Alpenwiese, sondern vor einer grauen Häuserfassade stattfindet.
Und irgendwann am anderen Ende des Prozesses scheint sich alles zu vermischen. Ein Leben in einer globalisierten Welt. Manchmal träume ich davon, wie mich eine der in Indien so allgegenwärtigen Motorradrikschas zu Hause in meinem Dorf im Zürcher Weinland zum Bahnhof befördert.

Veröffentlicht auf dem Indien-Portall theinder.de

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