Tabuzone Lindenblütentee

Die Römerin hat nämlich vor einiger Zeit eine Tee-Theorie aufgestellt: Vom Tee, den Menschen trinken, lässt sich auf deren Charakter schliessen. Wer Vanilletee trinkt, ist ein sinnlicher Mensch, Roibostee-Trinker sind die Weltoffenen, Hagenbuttentee-Trinker solche, die in Dritte-Welt-Läden einkaufen. Eine absolute Tabuzone hingegen ist der Lindenblütentee. Wer im Café einen Lindenblütentee bestellt – und dann noch ohne Zucker!! – dem ist jegliche Lebensfreude abhanden gekommen. Diese Person offenbart sich als Geizkragen oder muss ein völlig übertriebenes Figurbewusstsein haben. Ich habe anfangs nicht ganz verstanden, warum die Römerin sich so über den Lindenblütentee aufregt. Doch als sie mit dem Brustton der Überzeugung ausrief: "Lindenblütentee schmeckt doch nach gar nichts!", wurde mir klar, was sie meinte: Lindenblütentee hat weder Farbe noch Geschmack, eigentlich könnte man genauso gut heisses Wasser trinken. Lindenblütentee-Trinker sind anämische Typen, also Menschen mit akuter Blutarmut.
Man würde es nicht für möglich halten, aber Stil- und Imagefragen entscheiden sich nicht nur am Morgen vor dem Kleiderkasten oder bei der Partnerwahl. Nein, auch so etwas Banales wie eine Bestellung im Café kann dich zu einem ganz bestimmten Typ Mensch degradieren. Jetzt macht auch die Inschrift an der Häuserwand meiner Stadt mehr Sinn: Tee trinken ist wirklich etwas für die Weisen dieser Welt – zumindest in der Öffentlichkeit. Denn die Fettnäpfchen sind manchmal näher, als man sie vermutet.
Eduschka - 19. Okt, 11:33