Zwischen Büchern

Kaktusblüte wiederum hasst das Lesen. Sie hat ihr Lebtag noch keine zehn Bücher gelesen. Unvorstellbar für mich! Wie also finden wir gegenseitig Zugang in unsere Reiche? Kaktusblüte wird nie verstehen können, wie ich empfinden muss, wenn ich die Gesamtausgabe meines Lieblingsphilosophen Montaigne in den Händen halte, die gut 500 Seiten umfasst. Wie gut sich dieser überdimensionierte Schmöker in meinen Händen anfühlt und wie mich das plötzliche Drängen erfasst, mit diesem Buch der Bücher unter dem Arm durch die Winterthurer Marktgasse zu stolzieren. Ich bin verrückt. Aber das sind wir alle, wenn es um unsere Obsessionen geht. Es ist normal, dass es uns bewegt, wenn wir so nah an dem dran sind, was uns ausmacht.
Letzte Woche im Kellergeschoss der städtischen Bibliothek wurde mir plötzlich bewusst, dass meine Freundin Kaktusblüte, obwohl sie mich und mein Innenleben so gut kennt, keine Ahnung davon haben muss, dass ich mich in meinem Alltagsleben regelmässig an diesem Ort aufhalte. Es ist der Platz, wo Bücher aufbewahrt werden, die nicht so häufig ausgeliehen werden. Wahrscheinlich hat sie keine Ahnung, wie es dort, im Bauch der Bibliothek, aussieht, wie es riecht. Wie still es ist. Sie weiss nicht, dass die Regale bis zur Decke reichen und proppenvoll sind mit Büchern. Die Regale sind verschiebbar. Damit man zum gewünschten Regal herankommt, dreht man an einem grossen Rad. Eine Luke öffnet sich, während sich die bisherige schliesst. Meine Freundin kann nicht wissen, dass ich jedes Mal, wenn ich an diesem Rad drehe, einen Moment lang fürchte, jemanden in der sich schliessenden Luke zu erdrücken. Einen anderen Bibliotheksbesucher, der im falschen Moment geräuschlos geatmet hat. Doch betritt man erst mal die Luke, ist das alles vergessen. Auf beiden Seiten des Ganges türmen sich die Bücher meterhoch. Ein Gefühl des inneren Friedens flutet mich.
Kaktusblüte würde nicht so empfinden. Doch ich bin mir sicher, wenn ich sie mitnähme, meine Freundin Kaktusblüte, sie würde sich sehr über dieses Rad amüsieren, mit dem sich die Regale wie von Zauberhand öffnen und schliessen lassen. Von Büchern erdrückt zu werden! Auch diese Vorstellung würde sie vermutlich belustigen. Sie würde alles mit dieser kindlichen Unschuld betrachten, die denen eigen ist, die keinerlei Bezug zum Objekt haben, das sie betrachten. Und dann würde sie sich zwischen zwei Regale stellen und ich würde ganz vorsichtig am Rad drehen, bis ihre Nasenspitze fast von einem Buchrücken platt gedrückt würde. Wir würden losprusten und uns die Bäuche halten vor lachen.
Ich hätte ihr einen Ort gezeigt, der sehr viel darüber aussagt, wer ich bin. Damit hätte ich ihre Welt mit einer Erfahrung bereichert, die ohne mich nie ein Gesicht bekommen hätte. Denn genau dafür sind Freundinnen da. Sie bereichern unser Universum, lassen uns an einer Welt teilhaben, zu der wir ohne sie keinen Zugang hätten. Sie sorgen dafür, dass wir nicht so ignorant durchs Leben gehen müssen, in der Meinung, alle würden gleich empfinden. Ich bin froh, dass nicht alle meine Freundinnen Büchernarren sind. Es macht mich nicht einsam. Im Gegenteil: Es bereichert mich, meine Welt durch ihre Augen zu sehen.
Eduschka - 31. Mär, 15:49