Glaube in den Aberglauben
Manche Pendler schlagen im Zug ja als erstes die Seite mit der Rubrik «Schatzchästli» auf - halb erwartend, dass sich jemand unsterblich in sie verliebt hat, während sie durchs Fenster schauten und in der Nase bohrten. Andere träumen vom grossen Lottogewinn oder dem wohlhabenden Erbonkel aus Amerika. Da nimmt sich mein kleiner Aberglauben schon etwas bescheidener aus. Ich bin nämlich komplett der Überzeugung verfallen, dass mein Leben eines Tages an einem Anschlagbrett eine entscheidende Wendung nehmen wird. Ich kann deshalb auch an keinem schwarzen Brett vorbeigehen, ohne von der unauffälligsten Annonce Notiz zu nehmen. «Druckerschwärzesüchtig!», höre ich meine Freundinnen spotten. Doch es ist nicht nur das. Jedes Mal nähere ich mich den Kleinanzeigen in der Bibliothek oder dem Quartier-Migros wieder aufs Neue in der idiotischen Annahme, eine Annonce zu erspähen, die mich richtiggehend «anspringt». Bei der sich sofort die innerliche Gewissheit einstellt: Das ist es. Doch meistens steht da ziemlicher Mist. Menschen suchen Sofas oder sammeln alte Schreibmaschinen. Solchen Kram. Vergeblich habe ich bisher auf die Anzeige mit lebensveränderndem Potential gehofft. Die Latte ist auch ziemlich hoch gesteckt. Eine Stelle auf einem Kreuzfahrtschiff oder ein freies Plätzchen in einem Schriftsteller-Häuschen in der Toskana müsste es schon sein. Irgendetwas verrücktes, nicht allzu alltägliches! Dabei habe ich früher am Schwarzen Brett meiner Schule noch nicht mal gebrauchte Schulbücher erstanden. Ich halte es wie die manischen Lottospieler, die in ihrem ganzen Leben noch nicht mal einen Fünfliber gewonnen haben: Ich bewahre mir meinen unerschütterlichen Glauben in den eigenen Aberglauben.
Erschienen im "Winterthurer Stadtanzeiger" vom 7. April 2009
Erschienen im "Winterthurer Stadtanzeiger" vom 7. April 2009
Eduschka - 7. Apr, 10:27