Die Arbeit am Feintuning
Gestern habe ich über Kategorien nachgedacht. Ich bin schon lange Vegetarierin, nicht aus tierschützerischen Gründen, sondern weil ich den Geschmack von Fleisch nicht mag. Für Bratwüste, – noch besser: Currywürste – hegte ich allerdings schon immer eine heimliche Vorliebe. Eine Leidenschaft, die ich aus Glaubwürdigkeitsgründen lange unterdrückt hielt. Schliesslich war ich doch Vegetarierin! Über Jahre hinweg fand also kein einziges Nahrungsmittel aus Tierdärmen den Weg in meinen Verdauungstrakt. Vor nicht allzu langer Zeit war dann für mich der Zeitpunkt gekommen, um meinem selbst auferlegten Wurst-Embargo ein Ende zu setzen. Seither stehe ich uneingeschränkt hinter meiner Leidenschaft für Wurstwaren. Ein Befreiungsschlag! Nun erzähle ich jedem, der es hören will, dass ich eine Würste essende Vegetarierin bin. Die meisten Reaktionen darauf sind belustigt-empört, «ausgerechnet Würste!», ist der meistgehörte Ausspruch, den ich mir anhören muss. Doch niemand käme ernsthaft auf die Idee, mich für unglaubwürdig zu erklären. Ist es nicht ein eigentliches Merkmal des Erwachsenswerdens, dass wir fähig werden, unsere selbst auferlegten Fesseln zu sprengen? Gelingt es uns erst mit einer gewissen Reife, auch vermeintliche Widersprüche in unser Selbstbild zu integrieren?
Als Teenager, auf der Suche nach einer eigenen Identität, denken wir in sehr ausschliesslichen Kategorien. Vom Kleidergeschmack über die Musikvorliebe bis zum Menschen an unserer Seite muss das Bild «stimmig» sein, passend zu der Subkultur, der wir angehören. In der unbeschreiblich grossen Auswahl an Möglichkeiten, zu was für Menschen wir werden könnten, bieten Kategorien eine erste Orientierung. Sie verraten uns ganz grundsätzliche Dinge über unsere Vorlieben und Abneigungen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Ehrlichkeit gegenüber sich selbst. Nur wer konsequent diesem ganz spezifischen «Ich-Gefühl» folgt und ihm Glauben schenkt, kommt sich einen Schritt näher. Auf diese Erfahrungswerte können wir dann später aufbauen. Da hat es die Bedeutung einer Zeitenwende, wenn wir uns von diesen ausschliesslichen Kategorien verabschieden und zum Feintuning übergehen können. Die Kategorien haben uns grossen Dienst erwiesen, doch nun können wir uns von ihnen verabschieden, weil sie überflüssig geworden sind. Das ist dann der Zeitpunkt, an dem wir das Wurstessen wieder aufnehmen. Oder wieder mit dem Volleyball spielen anfangen, obwohl wir es in Teenagerjahren für uncool hielten. Manche finden den Weg zurück auf den Klavierhocker oder in die Kirche. Die Arbeit am Feintuning beinhaltet aber auch, Dinge zu sagen, wie kürzlich meine Freundin Eremita: «Ich stehe auf lautmalerische Ausdrücke in Gedichten.» Oder: «Mein Hobby ist es, auf meinem Nachhauseweg Telefongespräche zu führen.» Es ist die Arbeit am Detail, die Suche nach den ganz spezifischen Vorlieben, die Geschmack und Stil vielleicht letztendlich sogar ausmachen.
Im Alltag reicht die Zeit für Nuancen allerdings meistens nicht. So sage ich Fremden gegenüber auch weiterhin, dass ich Vegetarierin bin, obwohl das genau genommen nicht mehr stimmt, und auch das Label der Nichtraucherin hefte ich mir an, obschon ich dem Genussrauchen nicht abgeneigt bin. Erst wenn mit einem Menschen eine gewisse Vertrauensbasis erreicht ist, zeigen wir uns mit all unseren Facetten. Vielleicht erkennen wir einen Menschen nur dann wirklich, wenn wir ihn in all seinen Facetten begriffen haben. Und spätestens dann wird es für uns unmöglich, ihn mit einer Kategorie abzuspeisen. Genauso wie es mittlerweile auch für uns selbst unmöglich geworden ist, uns selbst in eine Kategorie zu quetschen. Dafür sind sie einfach zu eng, diese Schubladen. Meine Persönlichkeit hat keinen Platz mehr darin.
Eduschka - 8. Mai, 13:31