Donnerstag, 13. Mai 2010

Meine bunte Bande

Sitting on my eyelashes

Wie ist es, wenn man seine Stimme verliert, sei es auch nur für ein paar Stunden? Unfreiwillig aufs Zuhören beschränkt, sieht man die Dinge plötzlich klarer. Obschon neulich nur noch ein Krächzen aus meiner Kehle kam, wollte ich mir das Ausgehen nicht nehmen lassen und fand mich Grog trinkend an der Bartheke wieder. Mit meinen Freundinnen unterhielt ich mich, indem ich Satzfragmente auf Zettelchen schrieb. Obwohl meines wichtigsten Ausdrucksmittels – meines Sprechapparates – beraubt, fühlte ich mich im Gespräch in der Gruppe nicht eine Nanosekunde lang unverstanden. Meine Freundinnen besassen die Fähigkeit, die Satzfragmente, die ich notierte, in den richtigen Kontext zu setzen, mühelos, wie selbstverständlich. Nie gab es auch nur ein einziges Missverständnis. Staunend musste ich erkennen, dass eine grosse Freundschaft wie ein lebendiger Organismus ist, der Fehlendes fortlaufend ergänzen kann. Dieses Erlebnis hat eine Neudefinition von Freundschaft in meinem kleinen Leben nötig gemacht. Meine Freundinnen sind die Stellvertreterinnen meiner aussetzenden Sinne. Würde ich mein Gehör verlieren, meine Freundinnen würden mir ihre Ohren leihen. Würde ich meine Fähigkeit zu riechen einbüssen, meine Freundinnen gäben mir mit ihren Nase den Duft der Welt zurück. Würde ich erblinden, meine Freundinnen machten mir mit ihren Augenpaaren die Welt wieder sichtbar.

Über Freundschaft wurde in der Geschichte bereits viel geschrieben. Doch nicht alle Denker haben die Freundschaft zwischen Menschen gleich hoch bewertet. Der französische Philosoph Jacques Derrida zum Beispiel soll in einer der berühmtesten Aussprüche über Freundschaft gesagt haben: «Oh meine Freunde, es gibt keine Freunde!» Immanuel Kant hat das später umformuliert in: «Keine Freundschaft kongruiert völlig mit der Idee der Freundschaft.» Nach diesem Denkmodell wäre das Ideal von Freundschaft unerreichbar und somit eher als ein Kanon von Richtlinien zu verstehen, der aufzeigt, wie Menschen miteinander umgehen sollten.
Freundschaft als ein Gebot des guten Umgangs miteinander – der Gedanke ist nicht neu. Bereits in der antiken Philosophie hatte die Tugendhaftigkeit der Freundschaft ihren festen Platz. Aristoteles begründet dies so: «Der Tugendhafte verhält sich zum Freund wie zu sich selbst, denn der Freund ist ein anderer 'er selbst'. Freundschaft bedeutet, dieselben Grundwerte zu teilen, was ein bedeutsames Gefühl von Gemeinschaft hervorruft. Schreibt man Freundschaft die Bedeutung eines übergeordneten Werte- und Bezugssystems zu, sind wir dem Prinzip von Religion bereits sehr nahe.

Man kann die Freundschaft zur Religion ernennen, man kann sie aber auch zur Kunstform erheben. Ja, in der Tat: Freundschaft ist mehr, als der Freundin die Haare aus dem Gesicht zu halten, wenn sie über der Kloschüssel hängt. «Satsang» nennt man in der indischen Philosophie ein Treffen unter Gleichgesinnten, den wahren Umgang pflegen, weg von den uneigentlichen Verhältnissen und den Zweckbündnissen hin zu den wahrhaftigen Freundschaften. In Einsamkeit kann sich kein Charakter ausbilden. Und letztendlich sind es immer die anderen, die uns zu unseren besten Gedanken inspirieren. Der Austausch ist ein wichtiger, lebendiger Teil von Freundschaft. Sich begleiten, eng begleiten. Gemeinsam unterwegs sein, gemeinsam WERDENDE sein. Meine Freundinnen sind nicht nur Stellvertreterinnen meiner aussetzenden Sinne. Sie haben auch einen festen Platz auf dem geschwungenen Bogen meiner Augenwimpern und leben meine Erfahrungen mit. Das Geheimnis besteht darin, dass sie zwar das gleiche sehen, aber selten das gleiche wahrnehmen. Schliesslich hat man von dort oben eine leicht andere Sicht der Dinge. Meine Freundinnen sind die Aussenansicht auf mein Leben, meine Bewusstseinswächterinnen. Und die Kunst der Freundschaft liegt vielleicht in der Disziplin, eine gesunde Distanz zu wahren, die der Respekt vor dem Anderssein des Freundes gebietet.

Doch was macht eine grosse Freundschaft aus? Zuallererst die Freiheit. Bereits die antiken Philosophen wussten es: «Allein unsere Freunde suchen wir uns in aller Freiheit.» Freundschaft ist die freiste aller Beziehungsformen. Diese Freiwilligkeit bis zum äussersten lässt Freundschaft so edel erscheinen, verleiht ihr diese fast schon majestätische Anmut. Die Bande mit Eltern oder Geschwistern konnten wir nicht frei wählen. Wir bekommen die Karten zugeteilt und müssen lernen, mit dem Blatt in unserer Hand zu spielen. Freundschaftsbande flattern frei im Wind. Und sie sind begleitet von so viel Ausgelassenheit und Lebensfreude. Dann zum Beispiel, wenn sich «meine bunte Bande» für eine Geburtstagsüberraschung ins Trachtengewand stürzt und am Pfäffikersee von farbigen Kühen singt oder im Februar beschliesst, dem Winter mit einer rauschenden Sommernachtsparty einen kräftigen Todesstoss zu versetzen. Das sind die Momente, in denen mir bewusst wird, wie viel Spass das Leben mit ihnen macht und wie viel ärmer ich wäre ohne sie. Meine Freundinnen sind Künstlerinnen, Lebenskünstlerinnen. Sie wissen ein gutes Leben zu führen. Oder wie der französische Philosoph Michel de Montaigne es einst so schön formulierte: «Ich suche nach keiner anderen Wissenschaft als der, welche von der Erkenntnis meiner selbst handelt, welche mich lehrt, gut zu leben und gut zu sterben.»

Gutes Leben, gutes Sterben – wenn es eine Kunst des Lebens gibt, dann muss die Kunst der Freundschaft eng damit verknüpft sein. Doch grosse Freundschaften können auch gefährlich sein. Dann nämlich, wenn Menschen sich hinter ihren Freunden, die sie als stärker, lebenspraktischer und beliebter wahrnehmen, verstecken wie hinter lebendigen Schutzschildern. Grosse Freundinnen haben breite Schultern, hinter denen man sich ducken kann, um nicht hinaus zu müssen, ins Leben, in die Welt. Im ersten Moment ein artfremder Gedanke: Aber gerade von grossen Freundschaften, die das Potential haben, ein Leben lang anzudauern, muss man sich emanzipieren. Einst hatten alle denselben Ausgangspunkt, waren ein formvollendetes Kollektiv. Doch Freundschaft heisst nicht Gleichschaltung. Individuation ist wichtig, für die Einzelperson, und auch für das Fortbestehen der Freundschaft. Erst wenn in einem Freunde-Kollektiv der Einzelne innerlich frei ist, kann man sich auf der gleichen Augenhöhe begegnen.

Man darf sich zu Recht fragen, ob die Freundschaft, als hohe Kunst betrachtet, ein Phänomen vergangener Jahrhunderte ist. «Ich glaube, ich wachse daran», sagt Harry zu Sally. Und Cicero sagt: «Wer die Freundschaft aus dem Leben streicht, entfernt die Sonne aus dieser Welt.» Es gibt nicht viele Dinge im Leben, die vollkommen sind. Freundschaft ist eines davon. Damals wie Heute.

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