Spätentdeckerinnen
Manchmal müssen gewisse Facetten unserer Persönlichkeit lange im Dunkeln harren. Das kann so weit führen, dass wir uns ihrer nicht mal selbst bewusst sind. Erst, wenn sich die Lebensumstände ändern - zum Beispiel, wenn der Partner stirbt – eröffnen sich neue Räume. Der Tod ordnet alles neu. Am Flughafen mache ich immer wieder erfrischende Bekanntschaften mit solchen typischen «Spätentdeckern». Überdurchschnittlich häufig sind es ältere Damen, die ihr Leben lang der Familie gedient haben und erst spät noch die Abenteuerlust in sich entdecken. Und dann ausbrechen, aus dem Reisen eine Passion machen. Gibt es eine bessere Verjüngungskur als das Reisen? In lebendiger Erinnerung bleibt mir die Frau, die mit 90 immer noch munter um die Welt reist. An ihrem 90. Geburtstag habe sie in Barcelona getanzt, erzählt sie mir stolz, und ihre nächste Reise führe sie nach Frankreich ins Männerkloster... Über soviel Unternehmungsgeist in diesem hohen Alter kann ich nur staunen. Oder die ältere Dame auf dem Weg nach Jeddah, die ihren Mitbewohnern im Innerschweizer Altersheim den Rücken kehrt, um in Gassen mit arabischen Türmchen um Gewürze zu feilschen. Sie habe ihren Mitbewohnern bis zum letzten Moment verschwiegen, dass sie wieder fahre. Ihr Geburtstag im Mai feiere sie aus Prinzip nicht daheim. Dass man sogar noch aus dem Altersheim heraus in den Orient reist, finde ich klasse. Ich bewundere diese Frauen für ihren Mut, sich trotz körperlichen Limitierungen nicht vom Reisen abzuhalten. Zudem lassen sie in mir die Überzeugung heranreifen, dass Frauen in Wirklichkeit viel abenteuerlustiger sind als Männer. Spät entdecken, ich erahne es, muss ganz besonders lustvoll sein.
Eduschka - 14. Sep, 19:08