Unmündigkeit im Zeitalter der Mündigkeit

«Von manchen Kindheiten muss man sich erholen, von manchen muss man sich trennen», so heisst es im Buch «Ibrahim und die Blumen des Korans». Doch was ist es, das uns mit solcher Wehmut an unsere Kindertage zurückdenken lässt? Damals, als wir mit den Geschwistern Mondlandung gespielt haben oder mit der Grossmutter im Wald Brombeeren von den Sträuchern pflückten? Geschwister, Grosseltern, Eltern…sie alle befanden sich früher dicht an unserer Seite, in ihrem Schutz konnten wir uns austoben, Schabernack treiben. Sie waren es, die letztendlich die Entscheidungen für uns trafen. Sie nahmen uns an der Hand, sobald es brenzlig wurde. Von einem Kind wird keine Eigenverantwortung erwartet – der wohl grösste Unterschied zum Leben eines Erwachsenen. Die Sehnsucht nach dieser Geborgenheit in Unmündigkeit schlummert in vielen von uns noch im Erwachsenenalter. Viele empfinden es als Last, ihr Leben autark zu leben, denn schliesslich ist es viel bequemer, sich von jemandem führen zu lassen. Schon Immanuel Kant erkannte im 18. Jahrhundert: «Es ist so bequem, unmündig zu sein». Der berühmte Aufklärer kritisiert die Faulheit und Feigheit seiner Zeitgenossen und sieht sie als Ursachen für ihre «selbstverschuldete Unmündigkeit». Unmündigkeit definiert Kant als «das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen». Zeitgeschichtlich gesehen bezeichnet die Aufklärung den Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit, so steht es in den Schulbüchern. Das klingt nach einem Zustand mit einem klar definierten Anfang und einem klar abgrenzbaren Schluss, doch diese Betrachtungsweise würde der Komplexität der Sache zu wenig Rechnung tragen. Die Aufklärung ist kein Zustand, sondern ein Prozess, der ungefähr im Jahr 1688 seinen Anfang findet und in den nächsten Jahrzehnten geprägt ist von zahlreichen Debatten, Entwicklungen, auch von Rückschlägen. All diese Veränderungen in der Epoche der Aufklärung münden dann 1789 in der französischen Revolution, die in Europa keinen Stein mehr auf dem anderen belässt. Damals lösten sich die ganzen Herrschaftsverhältnisse auf, die das Leben der Menschen bis zu diesem Zeitpunkt geprägt hatten. An die Stelle der Kirche als mächtigste Instanz trat der Verstand. War man zuvor auf Gedeih und Verderb einem Dritten ausgeliefert, galt es nun, sein Leben selber in die Hand zu nehmen. Das erinnert doch sehr an einen Jugendlichen, der aus dem Schatten seiner Eltern heraustritt und langsam in einer anderen Welt Fuss fasst. In der Welt der Selbstbestimmung. Auch das ist ein Prozess, der nicht von heute auf morgen stattfindet. Willkommen in der Welt der Erwachsenen. Wie bei den Menschen im Aufklärungszeitalter verändert sich auch beim Teenager die Weltanschauung. Das bedeutet grosse Freude des Entdeckens, aber auch mühsame innere Kämpfe. Die Ablösung vom Elternhaus und somit vom Luxus des Geführt-Werdens gelingt auch nicht allen gleich gut. Manche schaffen den Absprung nie ganz und hören noch auf ihre Eltern, wenn sie selber längst wieder Eltern sind. Überträgt man also die Entwicklung des Menschen auf die Geschichte, ist die Menschheit mit der Aufklärung aus ihren Kinderschuhen herausgewachsen und autark geworden. Doch was kommt danach? Oder anders gefragt: Wo stehen wir heute? Haben wir den Zenit vielleicht bereits überschritten? Befinden wir uns an jener gefährlichen Stelle, wo die Winde sich kreuzen und das Aufklärerische in erneute Unmündigkeit kippt, weil man der Flut von Informationen unmöglich mehr trauen kann? «Das Problem der Aufklärung heute ist nicht Informationsmangel wie damals, sondern das der Desinformation im Informationsüberfluss, der durchaus geeignet ist, Informationsunterdrückung zu kaschieren», schreibt Philosophieprofessor Herbert Schnädelbach in der NZZ. Laut Schnädelbach werde selbst nach der Aufklärung immer wieder neue Unmündigkeit entstehen. Die Frage ist, auf welche Art wir ihr begegnen. Obschon viel über die Medien geschnödet wird, geniessen sie in Ländern mit Pressefreiheit grosses Vertrauen. Selten wird kritisch hinterfragt, was man gerade gehört oder gelesen hat. Das ist gefährlich: Im Kampf um Rezipienten müssen die Schlagzeilen schriller und schriller werden. Man darf nicht erwarten, dass in einer Welt, in der nur Geld einen Wert hat, ausgerechnet vor Medienkonzernen mit der Geldmacherei Halt gemacht wird. Schliesslich bedeutet die Kontrolle des Informationskanals immer auch Macht, das wussten bereits die Römer. Im Gegensatz zu Zeiten des Alten Roms ist unser heutiges Zeitalter das Zeitalter des Individualismus. Das ist nichts Schlechtes, schliesslich muss das nicht zwangsläufig Respektlosigkeit oder Rücksichtslosigkeit gegenüber seinen Mitmenschen bedeuten. Die Individualität ist so etwas wie die logische Konsequenz der Aufklärung. Wir heben uns von anderen ab mit unseren eigenen Urteilen und unserem eigenen Geschmack. Emanzipation ist grundsätzlich gut – egal wovon wir uns emanzipieren, denn Emanzipation ist immer eine Befreiung aus einem Zustand der Abhängigkeit. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass es immer Menschen geben wird, denen es schwerer fällt, sich zu emanzipieren. So wie es manche nie ganz schaffen werden, sich von den Erwartungen ihrer Eltern zu befreien, wird es immer jene geben, die nicht die Fähigkeit besitzen, ihr Leben ohne fremde Anleitung zu leben. Lebensgestaltung ist eine angeborene Fähigkeit, die nur teilweise erlernbar ist. Menschen, denen es schwer fällt, die Meinung der Masse von der eigenen zu abstrahieren, sind in einer Welt des Informationsüberflusses besonders gefährdet, weil sie auf der Suche sind nach Halt und Wert in ihrem Leben. Damit sind sie für fanatische Religionsgemeinschaften bis hin zu Sekten besonders dankbare Opfer. Die Arbeit eines Journalisten in so einem System ist eine delikate Angelegenheit. Bei der Recherche wird es in Zukunft nicht nur darum gehen, seinen Verstand einzusetzen, sondern es wird auch immer wichtiger werden, seine Intuition und seine Menschenkenntnis in das Urteil miteinzubeziehen. Wie verlässlich ist diese Quelle? Diese Frage sollte uns auf unserem Weg ein treuer Begleiter sein. Die Aufklärung und damit die eigene Kritikfähigkeit sind für den Journalisten heute wichtiger denn je, weil es allein seine Verantwortung ist, ob er einer Desinformation aufsitzt oder nicht. Das Ganze bekommt aber zusätzlich eine dritte Dimension: An die Stelle der Rationalitätsgläubigkeit des Aufklärungszeitalters werden zunehmend emotionale Werte treten, die bisher unterschätzt wurden. Diesen Fehler jedoch werden wir uns in Zukunft nicht mehr leisten können.

Mai 2005, unveröffentlicht

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