Antraben zum Anschauungsunterricht
Ein Schaufenster zu dekorieren ist hohe Kunst. In der kleinen Stadt, die wir alle gut kennen, lohnt sich ein kleiner Anschauungsunterricht ganz besonders. In eben dieser kleinen Stadt existieren zwei Auslagen, die unter seinen Bewohnern immer wieder für Gesprächsstoff sorgen. Längst sind sie zu Fixpunkten im kleinstädtischen Alltagleben geworden. An Markttagen flüstern sich ältere Damen zwischen Blumenkohl und Lauchgemüse zu: «Häschs neue scho gseh?» Entnervte Väter zerren ihre plärrenden Kinder hinter sich her und setzen sie für fünf Minuten vor eines der beiden Auslagen – je nach Bedarf als Trostmittel oder Bestrafung. Denn, welch Ironie, die beiden Schaufenster liegen unmittelbar nebeneinander. Und während das eine durch Stil und Witz besticht, zieht das andere die Blicke der Passanten auf sich durch seine – es sei mir verziehen – abgrundtiefe Hässlichkeit. Man kann es auch nicht als saisonalen Schnitzer entschuldigen, ich beobachte dieses Phänomen schon länger. Die Scheusslichkeit besagter Schaufensterdekoration ist ein sicherer Wert in unsicheren Zeiten. Die Laubbäume im Stadtpark verlieren ihre Blätter, der Bretterverschlag des Brunnens im oberen Graben wird verhämmert, ein Dekorationswechsel drängt sich auf – doch während das eine Fenster hässlich bleibt, setzt man im Nachbarhaus dekorationstechnisch zum nächsten Höhenflug an. Ein Anblick, vom Stadtbild nicht mehr wegzudenken. Und wir möchten es auch gar nicht. Solche Kleinigkeiten sind es doch, die die kleine Stadt, die wir alle so gut kennen, zu dem macht, was sie ist: Hoffnungslos unperfekt, und genau deshalb so liebenswert.
Erschienen im Winterthurer Stadtanzeiger, 25. November 2008
Erschienen im Winterthurer Stadtanzeiger, 25. November 2008
Eduschka - 2. Dez, 19:10