Wär häts erfunde??

Wir Schweizer haben ja bekanntlich ein hochgradig pathologisches Verhältnis zu unserer Agenda. Manchmal nimmt dieser Wahn schon beinahe kultische Ausmasse an. Das fängt allein schon bei der Verfügbarkeit an: Gewisse Leute haben ihre Agenda – ob sie nun im Ausgang sind oder beim Kaffeeklatsch – einfach immer dabei. Kommt man zufällig auf Daten für Geburtstagsfeste, Konzerte oder den Töpferkurs zu sprechen, wird das Fetischobjekt blitzschnell auf den Tisch geklatscht, als hätte man sich untereinander abgesprochen. Mit religiösem Eifer blättern die Agenda-Fetischisten darin, als gelte es einen Contest zu bestehen. Ein Hauch Unterwürfigkeit liegt in ihrer Stimme, wenn sie sagen: «Ich muss zuerst in meiner Agenda nachschauen.» Spontan eine Einladung annehmen? Undenkbar. Mit der Agenda managen wir das Projekt, das unser Leben bedeutet. Sorgfältig und ordentlich notieren wir in dem kleinen Büchlein, bis wann die Abgabe der Präsentation fällig ist, in welcher KW (Kalenderwoche) der nächste Arzttermin ansteht, wann Zeit ist für Ferien, Freunde, den Geliebten. Mit einer Agenda pressen wir unser Leben in ein Raster. Wir besitzen unsere Agenden nicht, wir glauben an sie.

Die Terminfindungsplattform Doodle hat diesem Planungsfieber die Krone aufgesetzt. «Wär häts erfunde?» Richtig: Die Schweizer. Welch Überraschung. Seither wird nicht mehr nur gegoogelt, sondern vor allem gedoodelt ¬- quer durch alle Gesellschaftsschichten. Als kleine Projektmanager auf unserer ewigen Suche nach freien Zeitfenstern geben wir uns dabei oftmals der Lächerlichkeit preis. Doch wir merken es nicht, denn die Krankheit wurzelt im System. Eine Agenda hilft uns dabei, unsere Zeit möglichst nutzbringend zu gestalten. Das ist an sich ja nichts Schlechtes. Doch eine volle Agenda muss nicht unbedingt heissen, auch ein erfülltes Leben zu haben. Manche Menschen rennen von einem Termin zum nächsten, nur weil sie nicht wissen, wohin sie eigentlich wollen mit sich und ihrem Leben. Menschen in Entwicklungsstaaten besitzen keine Agenden, der Überlebenskampf lässt sich nicht in ein Zeitraster einteilen. Wir hingegen versuchen, aus dem Chaos, das unser Leben bedeutet, mundgerechte und verdaubare Häppchen zu machen ¬¬– weil wir mit so viel prallem und unverplantem Leben schlicht rettungslos überfordert wären?

Eine Agenda ist ein sehr persönliches Dokument für die Planung unserer unmittelbaren Zukunft. Sind die Tage verstrichen, werden die Einträge wertlos, der Zweck der Agenda ist erfüllt. Trotzdem haben wir darin – meistens ohne uns bewusst zu sein – Zeugnis abgelegt, wie wir unser Leben leben. Und dann auch wieder nicht. Ausser «Minigolf spielen mit Andrea» oder «Reminder: Arbeitsplan abgeben» ist das einzige, was es über unser Leben unter dem Strich zu sagen gibt. Deshalb frage ich mich manchmal, ob es nicht genauso wichtig wäre, neben der Agenda, die wir mit so viel Eifer führen, eine Art Reflexionsbuch für das hinter uns liegende anzulegen. Von Zeit zu Zeit inne zu halten sollte doch mindestens genauso selbstverständlich sein wie ein gelungenes Agendasetting. Ich jedenfalls würde gerne in einer Parallel-Agenda über mein Leben lesen: «Die ersten Krokusse spriessen im Garten.» Oder: «Ein überwältigendes Morgenrot gesehen.» Oder: «Warum können Pinguine nicht fliegen?» Denn Daten sind nur Daten. Erst wenn sie mit Sinn gefüllt werden, bekommen sie eine Seele.

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