Seine eigene Marke werden

Erasmus-Student in Berlin oder Barcelona zu sein – seit der Bologna-Reform ein Lebensgefühl. Neue interessante Leuten kennen lernen, zu billigem Bier die Nächte durchfeiern, zwei Vorlesungen pro Woche besuchen und in der restlichen, freien Zeit: Auf den Flohmarkt gehen, ein Akkordeon kaufen und darauf spielen lernen.

Zwischen Zwanzig und Dreissig ist es unsere Aufgabe, die Welt zu verstehen und einen Platz in ihr zu finden. In keinem anderen Alter ist die Sehnsucht so gross, endlich aufhören zu WERDEN und anfangen zu SEIN. In den letzten Jahren ist höhere Bildung für eine breite Bevölkerungsschicht zugänglich geworden. Noch vor fünfzig Jahren studierten 5 bis 7 Prozent eines Jahrgangs, heute sind 30, 40 oder sogar 80 Prozent. Das hat eine andere Welt des Studierens hervorgebracht. Aus der Universität für eine Elite ist eine Massenuniverstiät geworden; die Bologna-Reform ist ein Zugeständnis an dieses Massenphänomen, das eng mit dem Wohlstand in den europäischen Industrienationen verknüpft ist.

Früher, zu Zeiten der Humboldtschen Eliteuniverstiät, galt das Studium als eine besondere Lebensphase, die nur der Bildung und dem Lernen gewidmet war, eine Art Schwebezustand, privilegiert zwar, aber ökonomisch benachteiligt. (vgl. Stichweh) Heute erheben Studierende in Europa den Anspruch auf den gleichen Lebensstandard wie junge Berufstätige: Eine eigene Wohnung, Ferien oder sogar ausgedehnte Reisen, auf solche Dinge möchte heute niemand mehr verzichten. Deshalb erfolgt der Eintritt ins Berufsleben bei vielen Studenten oftmals gleichzeitig mit dem Studium.

Doch während früher der Eliteschicht der Aufstieg in eine hochprivilegierte Schicht sicher war, ist es heute jedem selbst überlassen, was er aus seinem erworbenen Wissen macht. Trotz abgeschlossenem Studium bleibt niemand mehr davon verschont, sich irgendwann die entscheidenden zwei Fragen zu stellen: «Was will ich wirklich anfangen mit meinem Leben?» Und, in einem noch grösseren Massstab: «Was will ich der Welt einst hinterlassen?» Die Antwort auf diese Fragen ist kompliziert und der Weg dorthin mit Dickicht und Schlingpflanzen überwuchert. Ein Studium bietet Antworten auf so manche Fragen – doch leider selten auf diese.

Wenn heute fast jeder Stellenbewerber einen Bachelor vorweisen kann, verliert dieser automatisch an Wert. Dafür steigt der Wert einer anderen, lange unterschätzen Eigenschaft: Originalität. Nicht jeder hat mit ein paar Freunden eine Snowboardfilm-Produktion ins Leben gerufen, selbständig eine Bilderausstellung organisiert oder ein start-up gegründet. Innovation und Originalität wird hoffentlich künftig in den Personaletagen einen mindestens ebenso hohen Stellenwert einnehmen wie Bildung. Und mit den neuen Medien ist das noch viel einfacher geworden. In mir jedenfalls beginnt etwas zu summen, wenn meine Freundin mir erzählt: «Weisst Du, es gefällt mir, wenn ich fast nicht mehr schlafen kann vor lauter Ideen, die mir im Kopf herumschwirren.» Ja, ja, mehr davon! Auch ich kenne dieses Gefühl des Überfliessens, wenn man so viele Projektideen gleichzeitig im Kopf hat und fürchtet, zu wenig Lebenszeit zu Verfügung zu haben, um sie alle umzusetzen.

Wie sehr uns ein Studienfach auch interessieren mag, selten wird es all unseren Potentialen gerecht. Genau in dieser Hinsicht sitzen wir häufig einem Denkfehler auf. Viel zu schnell fragen wir danach, wonach der Markt verlangt, dabei könnten wir ja auch einmal fragen: «Was haben wir dem Markt anzubieten?» Wir sollten den Mut haben, uns unser eigenes Berufsbild zu erschaffen, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, unsere eigene Ich-AG zu werden. Ein Studium kann auf diesem Weg sehr hilfreich sein – doch letztlich soll es nur ein Mittel sein zum Zweck. Gegen Ende meiner eigenen Studienzeit gab es einen Professor, der uns eine eindringliche Rede hielt im Hinblick auf unsere berufliche Zukunft. Am Schluss appellierte er an uns: «Werden Sie ihre eigene Marke!». Es war etwas vom Wichtigsten, was ich in drei Jahren Studium gelernt habe.


Quelle: «Ohne Hochschulen kein Wohlstand». In: NZZ Am Sonntag, 27. Dezember 2009. Rudolf Stichweh, Katharina Meier-Rust

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