Sitzen bleiben
Es gibt Menschen, die verstehen es auf wunderbare Art und Weise, die kleinen Dinge des Lebens wertzuschätzen. Sie – und nur sie – sollten unsere Lehrer sein. Die Menschen, von denen ich spreche, essen die Himbeer-Speise vor dem Hauptgang oder wählen ihren Arbeitgeber ostwärts aus, um morgens in die aufgehende Sonne zu fahren. Diese Menschen würden das «Schöggeli» zum Kaffee niemals im Unterteller zurücklassen oder den Kinosaal vor dem Abspann verlassen. An der Anzahl derer, die nach dem Ende der Kinovorführung gleich aufspringen, ihren Mantel packen und in die Nacht entschwinden, lässt sich ungefähr messen, wie rar der Genussmensch geworden ist. Sie müssen zurück, zurück zu ihren Terminen, ihren Gewohnheiten, ihrem Alltag. Der Genussmensch hingegen bleibt sitzen, wippt ein bisschen mit dem Fuss zur schönen Abspannmusik; ja vielleicht wischt er sich noch eine Träne aus dem Augenwinkel. Für ihn bedeutet das Leben Hingabe. Er will es auskosten, jeden Moment, bis zu des Bechers Neige. Und dazu gehört auch, sich von der Stimmung eines Films bezaubern zu lassen und noch etwas in diesem Gefühl zu schwelgen, während der Abspann über die Leinwand läuft. Wie schön das Leben doch ist! Sitzen bleiben ist so einfach. Man muss es nur tun.
Erschienen im "Winterthurer Stadtanzeiger" vom 15. Dezember 2009
Erschienen im "Winterthurer Stadtanzeiger" vom 15. Dezember 2009
Eduschka - 22. Dez, 12:39