Place does matter

Prolog
Der Ort, aus dem ich komme, ist ein fruchtbarer Ort: Im Frühling blüht der Raps in einem knalligen gelb, im Sommer steht für einige Wochen der Weizen auf dem Feld, dessen Ähren sich sachte mit dem Wind hin und her bewegen, die unasphaltierten Fahrstrassen, auf denen ich dahinradle, werden von fröhlichen Sonnenblumenfeldern gesäumt. Im Herbst, wenn morgens bereits die ersten Nebelfelder vom Fluss heraufziehen, arbeiten die Bauern auf dem Feld oder in den Reben, die Kartoffeln müssen aus dem Boden und die Weintrauben in die Flasche. Ganz zum Schluss der Erntezeit kommen die Zuckerrüben, riesige Berge von ihnen ragen vom Boden auf und werden in etlichen Ladungen zur nahen Fabrik gefahren. Den ganzen Winter über spucken die Schlote der Zuckerrübenfabrik weissen Rauch aus, der einen eigenartigen Geruch, einen Geruch der Verwesung, verströmt.


Es gibt Ortschaften, die wir bewohnen. Und es gibt Orte, die in uns wohnen. Da könnte es doch sein, dass der Ort, an dem wir aufwachsen, prägend ist für den weiteren Verlauf unserer Entwicklung, ja unseres Lebens. Was für ein Mensch wäre ich wohl heute, wenn ich nicht in einem Rebanbaugebiet mit mildem Klima, sondern in einer Grossstadt wie Zürich oder Genf oder einer Millionenstadt wie Sao Paolo oder Tokio geboren und aufgewachsen wäre? Die Landschaft, die uns umgibt, während wir in diese Welt hineinwachsen, setzt sich in unserer Seele fest, sie prägt uns für immer – ob wir das möchten oder nicht.

Menschen widerspiegeln mit ihrem Wesen den Charakter der Landschaft, die sie bewohnen. Deshalb sagt man den Bergleuten etwas Raues, Herbes nach – überall auf der Welt. Ein Tal in den Schweizer Alpen, wo im Hochwinter einen Monat die Sonne nicht hinkommt oder ein Küstenstädtchen am Meer mit freiem Blick auf den Horizont kann nicht den gleichen Schlag von Menschen hervorbringen.
Und aller Wahrscheinlichkeit nach werden diese Menschen einen ganz unterschiedlichen Zugang haben zum Thema Grenzen. Ein Bergler wird sich wahrscheinlich am Meer nicht besonders wohl fühlen. Diese grenzenlose Weite des Horizonts scheint ihn zu verschlingen, schwimmen hat er vielleicht nie richtig gelernt, für ihn hat das Meer etwas Todbringendes. Er weiss nicht, was in diesen Untiefen des Wassers noch alles lauert, er hat Angst vor Unterströmungen. Der Flachländer hingegen wird sich wahrscheinlich in den Bergen nicht besonders wohl fühlen, dieses viele Weiss des Schnees wirkt todbringend auf ihn, er hat Angst, den Boden unter den Füssen zu verlieren und fürchtet sich vor Lawinen. Die Schatten, die die nahen Berge werfen, machen ihm Angst.

Jeder Ort hat eine ganz bestimmte Atmosphäre, erzeugt eine gewisse Stimmung in uns. Fühlen wir uns an einem Ort nicht wohl und können wir doch nicht genau sagen weshalb, liegt es oftmals an der Grundstimmung des Ortes, der so gar nicht im Einklang ist mit unserer eigenen seelischen Grundstimmung. Vielleicht hat es nicht nur mit der Landschaft allein zu tun, sondern auch mit der Geschichte des Ortes. Auf einer Vietnam-Reise stellte ich fest, dass dieses Land aus irgendeinem Grund eine ganz eigenartige Melancholie ausstrahlt, die ich mir eigentlich nur mit seiner kriegsgeschüttelten Vergangenheit erklären konnte. Als Kind haben wir dieses Gefühl vielleicht «Heimweh» genannt, aber eigentlich trifft es das nicht. Es ist eher ein Gefühl der Entfremdung, ein Gefühl, nicht «bei sich» zu sein, aus dem Tritt zu sein. Dann krampft sich unser Inneres zusammen und wir möchten nur noch weg. Graue Vorstädte mit schnurgeraden, nie enden wollenden Strassen... schnell weg!

Aber natürlich gibt es auch die anderen Orte. Einladende Orte, die auf uns wirken wie lächelnde Freunde, die uns nach einer langen Reise Willkommen heissen. Den schönen, den ursprünglichen Orten entstammen nicht selten auch Menschen, die sich beruflich mit Schönheit befassen: Maler, Bildhauer, Schriftsteller. Oder Sänger. Die britische Sängerin und Brit-Award-Gewinnerin Duffy kommt aus einem kleinen walisischen Dorf direkt an der Küste. Wegen ihres Berufes heisst sie im Dorf nur «Duffy Cantoress», also «Duffy, die Sängerin». Nefyn hat gerade mal 2500 Einwohner, abends trifft man sich im einzigen Pub des Dorfes. Was Musik und Mode angeht, lebe man in Nefyn ein bisschen hinter dem Mond, lässt sich die Sängerin zitieren, «dafür ist die Landschaft sehr schön. Grüne Hügel, viele Seen und natürlich das Meer.»

Duffy als Beispiel einer Künstlerin, die auf dem Land lebt, ist nur eines unter vielen. Aber ihres ist, wie ich finde, ganz besonders charmant. Und es öffnet Räume für neue Gedanken: Warum leben so viele künstlerisch tätige Menschen in ländlicher Umgebung? Kann sich unser Geist erst dann zu neuen Höhen aufschwingen, wenn wir den Horizont sehen können und nachts die Sterne? Welchen Einfluss hat die Stille? Und die Spuren von Katzenpfötchen im Schnee? In der Stille – in der Einkehr - sind wir eher dazu gezwungen, uns auf uns selbst zu besinnen. In der Stadt werden wir abgelenkt, wir haben Unterhaltung, Abwechslung, das Leben ist schnell und flüchtig. Auf dem Land kommt der Mensch zur Ruhe, er wird gezwungen hinzuhören, auf seine eigene, ganz individuelle Stimme, die aus seinem Innern aufsteigt. Ich frage mich, was für eine Qualität es für die Menschen hat, Vogelgezwitscher zu hören oder die Sterne zu sehen. Es geht um dieses Ursprüngliche. Gleichgültig wie viel die Natur uns bedeutet: Wir alle sollten von Zeit zu Zeit Zeuge davon werden, wie die Sonne aufgeht und ein neuer Tag anbricht. Weil es so etwas Ursprüngliches ist. Weil es darauf hindeutet, woher wir kommen und wohin wir im Begriff sind zu gehen. Und nicht zuletzt, weil es uns erdet.

Ist es wirklich nur ein Zufall, dass auch so grosse Denker wie Gandhi, der indische Freiheitskämpfer, aus einem ganz kleinen Ort kamen? Gandhi stammte aus einem kleinen Küstendorf am arabischen Meer und stieg in die Weltpolitik auf. Vielleicht fällt es in der Ruhe und Abgeschiedenheit einer Landschaft, die noch nicht von Menschenhand gezeichnet ist, leichter, unabhängig zu urteilen und innere Freiheit zu erlangen. Wie ein roher Diamant kann ein Charakter in der Ursprünglichkeit einer Landschaft abgeschliffen werden, weil es nichts gibt, was diesen Prozess beeinträchtigen könnte. Vielleicht sind es aber auch zwei sich eigentlich zuwiderlaufende Eigenschaften, die einen Menschen gross machen können: Mit den Füssen tief in der Erde verwurzelt. Und mit dem Geist hoch oben in den Wolken zu Hause.

Epilog
In Zeiten, in denen Menschen in Südafrika geboren werden, in Bolivien aufwachsen und in Kanada sesshaft werden, weist die Geschichte meiner Familie eine eigentümliche Stabilität aus: Weder meine Grosseltern noch meine Urgrosseltern haben es geschafft, über ihre Rebberge hinauszukommen. Aber das Leben ist gut hier. Die sanften Hügelzüge, die die Landschaft prägen, machen die Menschen sanftmütig und gütig. Dennoch sind sie kräftig und stabil, nichts wirft sie so leicht aus der Bahn. Ungefähr so wie der mächtige Walnussbaum vor dem Haus unserer Nachbarn. Das ganze Dorf hat getrauert, als er gefällt werden musste. Die Leute hier sind wie Bäume, sanfte Bäume. Sie sind einfach da, darauf kann man sich verlassen. Vielleicht hatte es ja einen Grund, dass meine Vorfahren nicht weit gekommen sind. Sie waren ganz einfach klug genug zu wissen, dass es kaum einen Ort geben kann, der schöner ist als dieser.

OUT NOW: KUGELBOMBEN UND KAFFEE bestellbar unter buchstabenbazaar@gmail.com

Kugelbombenu-Kaffee_cover

IMPRESSUM

edith.truninger(at)gmail.com Copyright für alle Texte bei der Autorin

Schreiben...

...ist für den Schriftsteller immer die beste aller Möglichkeiten. unbekannt

AKTUELLE BEITRÄGE

Nice website
Nice website
shanayabindra - 23. Mai, 09:13
Ich hatte auch schon...
Ich hatte auch schon einige erste Dates, die nichts...
Jan (Gast) - 31. Dez, 15:13
Neue Website
Please visit my new website under www.edithtruninger.ch
Eduschka - 18. Aug, 20:35
Oh ja... Ich habe eine...
Oh ja... Ich habe eine vierwöchige Reise durch Indien...
Jan Rojenfeld - 15. Aug, 13:51
Revolution
Mein Zuckerwattenverkäufer Neug ier ist eine gute Eigenschaft....
Eduschka - 25. Mai, 12:23
Being 28
Wellen. Brandung. Rückzug Kurz nach dem 11. September...
Eduschka - 25. Mai, 10:40
Besser leben mit...
Frühstück bei Tiffany (Truman Capote) Montauk (Max...
Eduschka - 18. Mai, 14:12
Unser Schleudersitz
Das Leben ist so kostbar. Machen wir etwas draus! Verbringen...
Eduschka - 18. Mai, 14:04

LESE GERADE


Chalid al-Chamissi
Im Taxi: Unterwegs in Kairo

SUCHE

 

About
AMAZONEN-GESCHICHTEN
Besser leben
Betrachtungen
Bsundrigi Ort
Dialog
Essays
Exkursionen in die Tierwelt
Frauen & Männer
Global Ice Cream
Himmel & Meer
Indischer Alltag
Jugend & Alter
Lyrik
Miniaturen
Pantoffelheldin
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren