Kultureller Hybrid sein-werden

Jeder, der bei mir eine kurze Rast einlegt, ist auf der Durchreise. Bei mir können die Reisenden für einen kurzen Augenblick innehalten und verweilen, sich eine Atempause gestatten, um kurze Zeit später wieder aufzubrechen, an den Ort ihrer Bestimmung. Die Gründe für ihre Reisetätigkeit sind äusserst vielfältig: Manche reisen aus geschäftlichem oder familiärem Anlass, andere aus Liebe, für andere ist Neugierde und Abenteuerlust Hauptantriebskraft. Nicht wenige erhoffen sich an einem anderen Ort ein besseres Leben. Ganz besonders freut es mich da, wenn jemand eine Reise unternimmt um der Freundschaft willen. Denn gute Freunde im Ausland zu besuchen – egal wo auf der Welt – ist meiner Meinung nach der nobelste aller Gründe zu reisen.

So wie Evelin Rinderknecht, mit der ich heute Bekanntschaft gemacht habe. Ihre Freunde leben seit Jahren in Bangkok. Die Wartezeit bis zum Abflug wollte sich die ältere Dame mit einer guten Tasse Grüntee verkürzen. «Wissen sie, ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, jeden Tag eine Tasse Grüntee zu trinken», verrät sie mir und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu: «Das mache ich seit vierzig Jahren. Heute bin ich 75 Jahre alt und noch immer kerngesund.» Die Dame ist in Plauderlaune. Als ich ihr den Weg zum nächsten Restaurant mit Grüntee zeigen will, hört sie gar nicht hin und beschreibt mir stattdessen ihr gewohntes Bangkok-Programm: «Das Flugzeug setzt am Morgen in aller Frühe auf thailändischem Boden auf. Sobald ich die Einreiseformalitäten erledigt habe und meine Koffer vom Band gefischt habe, nehme ich mir ein Taxi und fahre zum Klub. Dort spiele ich für den Rest des Tages Bridge.» Ich stelle mir die alte Dame vor, wie sie in einem Salon im Kolonialstil um den Bridge-Tisch sitzt, und muss unvermittelt lächeln. Der Deckenventilator im abgedunkelten Raum dreht unermüdlich seine Runden, die tropische Hitze macht sogar die Stubenfliegen träge. Nur die lebhafte Alte in ihrem grasgrünen Kostüm und dem sorgfältig nachgezogenen Lippenstift – immerhin hat sie gerade einen zwölfstündigen Flug hinter sich – wirkt noch so taufrisch wie aus dem Modekatalog. Und mit dem Gin Tonic-Glas in der einen, und den Bridge-Karten in der anderen Hand feiert sie lautstark jeden errungenen Sieg.

Wenn dann um halb sieben die Dämmerung über die Millionenstadt hereinbricht, setzt sich die Dame wahrscheinlich in den Drawing room und gestattet sich mit ihren Freunden eine Kleinigkeit zu Essen. Aus Freude über das Wiedersehen wird wahrscheinlich eine gute Flasche Rotwein entkorkt. Im Kreise von Freunden, diese Erfahrung ist universell, schmeckt der Wein ganz besonders mundig und das Zirpen der Grillen kann leicht einen verheissungsvollen Klang annehmen. Die Stunden vergehen wie im Flug, bei so vielen Wochen des Getrenntseins hat man sich ja auch viel zu erzählen! In Nächten wie diesen, da tanzt der Geist, auch wenn es der Körper nicht mehr zulässt. Im Gespräch schwingt man sich gegenseitig zu neuen Höhen auf, lacht, tauscht Erfahrungen aus, bringt sich gegenseitig auf noch nie gedachte Gedanken. Und wenn man dann im ersten fahlen Licht des anbrechenden Tages todmüde ins Bett fällt, ist man einfach nur noch überglücklich.

Obwohl reisen immer mit Anstrengungen verbunden ist, nehmen wir den weiten Weg zu einem guten Freund mit einem Lächeln kauf. Nie ist es uns leichter gefallen, aufzubrechen. Nie haben wir weniger gezögert. Weil wir wissen, dass die Zeit, die wir mit diesem feinen Mensch verbringen werden, unschätzbar kostbar ist für uns und durch kein Geld der Welt aufzuwiegen. In der Liebe hingegen ist das anders. Liebesbeziehungen werden heute über kulturelle und geografische Grenzen hinweg eingegangen, Liebesgeständnisse reisen via E-Mail, Handy und Internet innert Hundertstelsekunden über die sieben Weltmeere. Unsere Zeiten scheinen mit den neuen Kommunikationskanälen geradezu dafür gemacht, der Liebe eine weitere Dimension zu geben. Wer sich sehnt, fühlt intensiver. Doch dieses sich-nacheinander-verzehren kann kein Dauerzustand sein, irgendwann muss es ein Ende haben, eine Paarbeziehung braucht die Perspektive, den Alltag. Man lebt von Begegnung zu Begegnung; unentwegt herrscht der Ausnahmezustand. Und liegen sich die Liebenden dann endlich in den Armen, beginnt auch schon wieder die lähmende Angst vor der Stunde des Abschieds von ihnen Besitz zu ergreifen. Es ist ein ständiger Wettlauf gegen die Zeit.

Liebe ist die Schnittmenge zweier Lebensrealitäten. Zu lieben bedeutet, sich zu bekennen. Zu einer Person. Einer Herkunft. Einer Kultur. In einer Freundschaft hingegen ist man viel freier in seiner Entscheidung, welche Elemente, die der Freund repräsentiert, sich ins eigene Leben integrieren lassen. Die ältere Dame wurde damals wahrscheinlich von ihren thailändischen Freunden ins Bridge-Spiel eingeführt. Und auch die Tatsache, dass Grüntee gesund ist und das Wachstum von Krebszellen hemmen kann, hat sie vermutlich von diesen Freunden zum ersten Mal gehört. So konnte sie diese zwei lieben Gewohnheiten in ihren Lebensalltag integrieren, ohne deswegen gleich zum Buddhismus zu konvertieren oder den thailändischen König mit blindem Eifer zu verehren. Das Trennende ist in einer Freundschaft genauso selbstverständlich wie das Gemeinsame. In einer Paarbeziehung hingegen wird das Trennende immer gleich als beziehungsgefährdend eingestuft. Es erfordert viel Hingabe und Geduld von beiden Seiten, Gräben aufzufüllen und Brücken zu errichten. In einer transkontinentalen Freundschaft hingegen kann man ganz zwanglos ein kultureller Hybrid werden.

Freunde und Ausland – meiner Meinung eine hinreissende Kombination. Auch deshalb, weil eine Freundschaft eine kulturelle Innenansicht liefert, die man in keinem Reiseführer der Welt findet. Das ist horizonterweiternd, ohne im Geringsten einzuengen. Auf eine sehr leichte, unbekümmerte Weise erhält man so einen tiefgreifenden Einblick in die Kultur des anderen, ähnlich dem Blick durch ein Kaleidoskop. Die einzelnen Muster vermischen sich ineinander und lassen so ein neues, viel komplexeres Gebilde entstehen. Verallgemeinerungen lässt man schnell hinter sich, um sich auf einer viel persönlicheren Ebene zu begegnen. Man nimmt den fremden Ort durch die Linse des Freundes wahr – und dadurch scheint er gleich nicht mehr so fremd. Wir fühlen uns dem fremden Land, der fremden Stadt plötzlich zugehörig, weil der Freund uns ein Gefühl von Heimat, von Geborgenheit geben kann. Auch die Bridge-Spielerin betrachtet Bangkok mittlerweile wahrscheinlich ein bisschen als ihre zweite Heimat. Weil sie Freunde hat in diesem Teil der Welt, ein Sicherheitsnetz. Ein emotionales Backup.

Eine metallische Stimme erklingt aus den Lautsprechern: «Frau Evelin Rinderknecht, bitte begeben Sie sich umgehend zum Ausgang E53.» Meine Bridge-Spielerin fährt zusammen. «Das bin ich!» Schnell rafft sie ihre Siebensachen zusammen. «Ihr Ausgang ist gleich dort vorne», beruhige ich sie. «Ich wünsche Ihnen eine gute Reise». Und in ihrem grasgrünen Kostüm eilt sie davon, auf ins nächste Abenteuer. Ich schaue ihr nach, wie sie im Fingerdock verschwindet, die Dame von Welt in ihrem grasgrünen Kostüm, mit ihrer Vorliebe für grünen Tee. «Manche Menschen haben einfach ein Talent für ein Leben Ton in Ton», denke ich und lächle.

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Chalid al-Chamissi
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