Der Panorama-Blick im Herz

Ich habe verschiedene Standorte für meinen kleinen, fahrbaren Eiscrèmewagen. Doch am Liebsten arbeite ich im Aussendock, direkt vor der Glasfassade. Ich mag die grossen Fenster, die dem Tageslicht dieses Übermass an Raum zugestehen. «Die Schönheit eines Flughafens», schrieb bereits Le Corbusier, «liegt in der Pracht des offenen Raumes». Seine Tage am Fenster zu verbringen, bedeutet, nicht eine einzige Verfärbung des Himmels, nicht eine Stimmung oder Wolkenformation zu missen, ohne den Elementen als solches ausgesetzt zu sein. Die Weite vor meinem Fenster erinnert mich an die unermessliche Weite des Ozeans. Habe ich gerade nicht viel zu tun, stelle ich mir zum Spass manchmal vor, ich würde mich an Bord eines riesigen Ozeandampfers befinden.

Es ist eine Art Spiel von mir. In meiner Vorstellung befindet sich auf der untersten Etage – dort, wo die ankommenden Passagiere aus den Fluggastbrücken strömen – das Unterdeck mit dem Maschinenraum. Von den schmucklosen Betongängen führen die einzelnen Türen zu den Kabinen der Besatzung. Auf der Ebene darüber – dort, wo die abfliegenden Passagiere das Boarding ihres Flugzeugs warten – öffnet sich die Rundsicht, hier beginnt das Leben zu pulsieren, kleine Läden reihen sich aneinander, Cafés laden zum Verweilen ein. In meiner Fantasie verschwinden die modernen Reisenden mit Laptop und Kopfhörer und machen den Damen in eleganten Roben Platz, die – eingehängt am Arm eines eleganten Herrn in feinem Zwirn – über Deck flanieren, lesen, Schach spielen, hinter vorgehaltener Hand über die Mitpassagiere tuscheln oder einfach nur die Sonne geniessen. Auf der obersten Etage - dort, wo sich in Wirklichkeit Zuschauerterrasse und die Lounge befinden – breitet sich ein grosses Sonnendeck vor meinem inneren Auge aus, mit Liegestühlen, in denen die Transatlantik-Passagiere in der sechs Tage dauernden Überfahrt stundenlang vor sich hindösen werden. Ist der grosse Moment des «Leinen los!» gekommen, stellen sich die Reisenden an die Reling und winken den Zurückbleibenden auf der Mole zum Abschied zu. Selbst als das Getöse der Motoren ohrenbetäuend wird, stehen sie noch dort sehen dabei zu, wie die Silhouetten am Ufer kleiner und kleiner werden – bis sie nur noch als winzige Punkte am Horizont zu erkennen sind und schliesslich ganz verschwinden.

Lange Zeit war das Meer ein angstbesetzter Ort. Kaum jemand wäre in früheren Zeiten auf die Idee gekommen, ohne zwingenden Grund das Meer aufzusuchen. (Clausen, S. 82) Erst mit der Urbanisierung veränderte sich die Einstellung zum Meer. Plötzlich schien das Meer mit seiner Dauerhaftigkeit und seiner unendlichen Weite dem flüchtigen Stadtleben überlegen. Das Meer als Gegenkonzept zum hektischen, krank machenden Stadtleben wurde zum Sehnsuchtsort, genau wie die Berge. Für den «neuen Menschen» ist das Meer ein Ort der Kontemplation und des Lichts, der ihm die Möglichkeit gibt, sich selbst zu relativieren (Clausen, S.82). Eine offene Landschaft, die ausserhalb von Raum und Zeit steht. «Wer am Meer entlanggeht, der sieht in allem etwas Fernes, anders als nur in geografischem Sinn», hat der ungarische Schriftsteller Sandor Marai einst gesagt. Ob todbringend oder beschwichtigend, das Meer hat ohne Zweifel eine besondere Wirkung auf die menschliche Seele. «Sand in my shoes», singt die Popsängerin Dido und beschwört damit diesen leicht entrückten Zustand herauf, den ein Tag am Meer in unserer Gefühlswelt hinterlässt und uns mitunter noch tagelang begleitet.

«Wohnen sie am Meer?», das ist eine Frage, die ich meinen Kunden häufig stelle. Sie interessiert mich deshalb so brennend, weil sie zu einer Thematik gehört, die mich schon lange beschäftigt: Fördert die Weite vor unserer Haustür die Weite unseres Denkens? Werden wir offener, durchlässiger, toleranter? Überträgt sich der Panorama-Blick in unser Herz? Zuerst sind die meisten Befragten etwas irritiert angesichts der Unvermitteltheit meiner Frage. Ist der erste Moment der Verwunderung einmal überwunden, geben sie jedoch meistens sehr freudig Auskunft. Die häufigste Antwort, die ich bekomme, verblüfft mich immer wieder aufs Neue, denn sie lautet: «Wir wohnen zwar am Meer, doch wir spazieren nur äusserst selten am Strand.» Um dann meistens noch halb entschuldigend hinzuzufügen: «Das, was man von der eigenen Haustüre hat, weiss man eben einfach zu wenig zu schätzen.» Zeigt sich das Meer also zu offensichtlich, scheint es seine Wirkung zu verlieren. Und muss wie eine Diva jede Gelegenheit nutzen, um auf sich Aufmerksam zu machen. Es wird launisch, wild und unberechenbar. «Das Land ist sicher, auf das Meer ist kein Verlass», hat bereits der Griechische Philosoph Pittakos gesagt und bringt damit diese Urangst des Menschen vor dem Meer zum Ausdruck. Im Grunde genommen ist das Meer ein menschenfeindlicher Ort.

Und dennoch lassen wir im Sommer keine Gelegenheit aus, ans Meer zu fahren. Das Meer ist ein beliebter Ort für Spiel, Spass und Freizeit. «Warst du schon mal am Meer?», fragt das Kind seine Freundin. Die ersten Ferien am Meer prägen sich tief in die Erinnerung ein. Noch als Erwachsene lässt uns das Salz, das wir nach dem Schwimmen auf unseren Lippen schmecken, an längst vergangene, unbeschwerte Kindertage zurückdenken. Das Meer ist aber auch ein bevorzugter Ort, um seine Gedanken schweifen zu lassen und den Kopf frei zu bekommen. Welche Tätigkeit eignet sich besser, um über sich und sein Leben zu reflektieren, als ein Spaziergang am Strand? Aus der Sicht der Ästhetik des Erhabenen, wie sie von Kant entwickelt wurde, kann das Innehalten am Strand eine besondere Schwingung des Ich auslösen, das sich erregt den Elementen gegenübersieht. Am Meeresufer, dort, wo Luft, Wasser und Erde ineinander übergehen, treffen die elementarsten Kräfte aufeinander. «Die Leere des Ozeans, zum metaphorischen Ort des persönlichen Schicksals erhoben, lässt den Strand als einen Grenzbereich erscheinen, der den Spaziergänger, unentwegt den Rhythmen des Wassers und des Mondes ausgesetzt, zu einer periodischen Lebensbilanz auffordert.» (Corbin, S.214)

Das Meer lädt uns aber nicht nur ein, über uns selbst nachzudenken, es kann auch eine Metapher sein für die unendliche Zahl an Möglichkeiten, die das Leben zu bieten hat. Demnach würde das Meer uns stetig zuflüstern: «Komm, verändere dich!» Es selbst macht es ja nicht anders. Dem Wind und den Kräften des Mondes ausgesetzt, ist das Meer nichts anderes als ein Sinnbild für Veränderung. Es wechselt von Ebbe zu Flut und dann wieder zu Ebbe, es lässt die Wellen branden, nur in seltenen Momenten liegt es still und schön da wie ein Seidentuch. Auch für Generationen von Auswanderungswilligen bedeutete das Meer nach der Entdeckung Amerikas das Tor in eine neue Welt. Sie mussten das Leben, so wie sie es gekannt hatten, hinter sich lassen im Wissen darum, dass sie niemals zurückkehren würden. Sich hingeben. Sich den Wellen und dem Meer überlassen, den Launen der Natur, der Technik, dem eigenen Schicksal. Es war der grosse, beherzte Sprung in ein neues Leben.

Besonders schön ist es im Aussendock, wenn die Sonne scheint. Die direkte Sonneneinstrahlung verleiht jedem Staubkörnchen Glanz, die Sitzreihen werden in ein goldenes Licht getaucht. Sonne und Architektur ist ein hinreissendes Paar. Alles wirkt plötzlich so anmutig, so überaus erhaben. Und manchmal, ja manchmal, wenn nachmittags die Sonne scheint und ich blinzeln muss, weil die Schneeberge der Glarner Alpen in der Ferne verführerisch glitzern, kommt es mir vor, als könnte ich am fernen Horizont die Fackel der Freiheitsstatue verheissungsvoll schimmern sehen.

Quellen: Corbin, Alain. «Meereslust». Das Abendland und die Entdeckung der Küste. Wagenbach.
Clausen, Jens. «Das Selbst und die Fremde». Über psychische Grenzerfahrungen auf Reisen. Edition Das Narrenschiff.

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