Paradies hinter Gittern

Srinagar (IN), Kaschmirtal

Bei Sonnenuntergang auf der hölzernen Bootsveranda zu sitzen, an einem köstlichen Kashmiri Kawha zu nippen und den Blick über den Dal Lake schweifen zu lassen, ist ein geradezu mystisches Erlebnis. Von hier lässt sich beobachten, wie arabisch aussehende Männer in langen schmalen Booten gemächlich auf dem Wasser dahinrudern, in der Ferne schimmern die schneebedeckten Ausläufer des Vorderen Himalaja. Die Umstände, die mich damals nach Kaschmir geführt haben, waren schicksalhaft, die Reise in keiner Weise geplant, und dennoch bin ich dankbar, dass ich diesen besonderen Ort bereisen durfte. Das liegt jetzt vier Jahre zurück und etwas sagt mir, dass ich nie mehr ins grüne Kaschmirtal zurückkehren werde. Kaschmir ist zu einem Sehnsuchtsort geworden, genauso wie für Tausende Exil-Kaschmiris auch.

Der indische Teil Kaschmirs ist ein stark umkämpfter Flecken Erde. Soldaten des indischen Militärs, die mit dunklen Blicken die Strassen Srinagars patrouillieren, lassen keinen Zweifel daran. Der aufblitzende Gewehrlauf an den Schultern der Soldaten verursacht jedem Besucher eine Gänsehaut. Ich befinde mich in einem Kriegsgebiet, geht einem bei einer harmlosen Stadtbesichtigung durch den Kopf. Wie es heisst, sind 700 000 Soldaten in Kaschmir stationiert. Die Region gehört zu den am stärksten militarisierten Gebiete der Welt. «Kaschmir gleicht momentan einem wunderschönen Gefängnis», schreiben Ella von der Haide und Alexander Vorbrugg im «Friedensforum».

Tatsächlich liegen menschliche Tragödie und landschaftliche Schönheit nirgendwo so nah zusammen wie in Kaschmir. Mit der Besonderheit eines Ortes geht oftmals eine geografische Einzigartigkeit einher. Das Kaschmirtal liegt an den Ausläufern des Vorderen Himalaja auf ungefähr 1700 Metern über Meer, eingebettet zwischen Pakistan, Indien und China und war jahrtausendelang Kreuzungspunkt von Karawanenstrassen. Händler haben hier auf ihrer beschwerlichen Reise Rast gemacht und sich von anderen Handelsreisenden Informationen über unpässliche Bergrouten beschafft oder sich gegenseitig ihre mitgeführten Schätze vorgeführt, kunstvoll verarbeitete Stoffe oder Silberschmuck. Seit Jahrtausenden hat Kaschmir eine Brücken- und Knotenfunktion zwischen Vorder- Zentral und Südasien; es wird in einem Atemzug mit dem Wort «Seidenstrasse» genannt. Seit Alters her war Kaschmir ein Schmelztiegel der Kulturen.

Fremdeinflüsse haben dazu beigetragen, Kaschmir zu dem zu machen, was es heute ist. Die Briten hatten während ihrer indischen Herrscherzeit eine besondere Vorliebe für das Tal. Weil es ihnen aber aus gesetzlichen Gründen verboten war, Land zu erwerben, holten sie alte Lastkähne und vertäuten sie am Ufer des Dal Lake. Die Hausboote sind heute das eigentliche Wahrzeichen von Srinagar. In vieler Hinsicht scheint Kaschmir von der Welt vergessen zu sein und mindestens hundert Jahre zurückzuliegen. Die Lebensweise im Tal ist einfach und ehrlich, der arabische Einfluss vermischt sich auf ganz besondere Art mit dem asiatischen. Zehn Tage auf einem solchen Hausboot zu verbringen, fühlt sich an, als hätte man eine Zeitreise gebucht. Die Soldaten mit ihren grimmigen Blicken sind auf dem See weit weg, die Sicht von der Bootsterrasse auf den glitzernden See ist atemberaubend und die Szenerie mit den schaukelnden Shikaras und den schachtelartigen ineinanander verkeilten Häuserfassaden gleicht einem Holzschnitt aus dem Alten China.

Doch die Boote sind in einem schlechten Zustand. Auf dem Dach fehlen teilweise Dielenbretter, vieles sieht verwahrlost aus. Nachmittags treffen sich die wenigen ausländischen Touristen auf dem Sonnendeck und man liest ein Buch, bringt sich gegenseitig einzelne Wörter in der jeweiligen Sprache bei, spielt Gitarre oder erzählt sich Geschichten. Kurz gesagt: Auf dem Hausboot gibt es absolut nichts zu tun; die Händler, die mit ihren schwimmenden Langbooten am Hausbootsteg anlegen und Import-Schokolade, Zigaretten und Bier verkaufen, bedeuten die einzige Abwechslung. Doch langsam überträgt sich der gemächliche Lebensrythmus auf einem selbst und mündet in eine beharrliche Gelassenheit. Hier, auf dem Dal Lake, verliert alles, was man jemals für wichtig gehalten hat, an Bedeutung. Ob das heisse Wasser für eine Dusche ausreichen oder die heizbare Decke funktionieren wird, wenn man des Nachts ins Bett steigt, sind an einem solchen Ort die wirklich bedeutsamen Fragen.

Was für ein friedvolles Leben herrscht auf dem See, und wie sehr steht es im Kontrast zu den wütenden kriegerischen Handlungen, die sich in der Stadt Srinagar und den umliegenden Dörfern immer wieder ereignen. Unterschwellig sind die Spannungen dauerpräsent, doch die herzensguten Hausboot-Besitzer versuchen ein möglichst normales Alltagsleben zu führen. Frei bewegen können sich die Kaschmiris nur unter Vorbehalten, und das gilt erst recht für Touristen: Für die Erkundung des schwimmenden Gemüsemarktes oder der Shalimar-Gärten muss man sich von den Gastgebern begleiten lassen. Streifzüge auf eigene Faust sind nicht zu empfehlen. Die Ereignisse der letzten Monate, in denen es nach der Tötung von zwei jugendlichen Zivilisten zu Massenprotesten kam, deuten an, dass der Freiheitskampf nicht verebbt ist, sondern sich nur auf die nächste Generation übertragen hat. Die Konflikte und die Gewaltbereitschaft hat sich wieder verstärkt, «Go India Go», skandieren blutjunge Kaschmiris, die auf indischer Seite häufig in Verdacht stehen, mit pakistanischen Untergrundkämpfern verbündet zu sein. Eine Szenerie des Friedens aber fehlende Freiheit für die Zivilbevölkerung – ein haarsträubender Kontrast.

Wenn man dann abends nach einer kleinen nächtlichen Hausboot-Feier in sein eigenes Boot tappt und kurz vor dem Einnicken die Rufe des Muezzins über den stillen See schallen hört, fühlt man sich fremd und doch so geborgen. Geborgen im Bauch eines hölzernen Schiffes, einst vertäut von einem stammen Mitglied der britischen Armee, unter muslimischen Familien, die seit dem ersten Ausbruch des Konflikts vor zwanzig Jahren schon so viele Tote zu beklagen hatten, und dennoch ihren Lebensmut nicht verloren haben. Menschen, die nicht viel mehr besitzen als die aufrichtige Liebe füreinander. Nie werde ich das Geräusch des Regens vergessen, der stundenlang aufs Hausbootdach geprasselt ist und die musikalische Untermalung war für die kaschmirischen Volkslieder, gesungen von Menschen, die einen aufnehmen in ihren Reihen als wäre man der eigene Sohn, die eigene Tochter. Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, denn böse Menschen kennen keine Lieder. Kaschmir hat mir bewusst gemacht, wie arm an Gastfreundschaft meine eigene Kultur ist. Doch das grösste aller Paradoxe war die überwältigende menschliche Wärme, die sich diese Menschen an diesem kalten Bürgerkriegs-schauplatz bewahren konnten. Oder die sich vielleicht gerade deswegen so intensiv ausbilden konnte.

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