Anwälte der Strasse

Die Anzahl Sozialhilfeempfänger in Winterthur ist im Verhältnis zum Kanton rekordverdächtig. Der Verein setzt seit Jahren ein Zeichen und bereitet Randständigen in der pro Tag eine warme Mahlzeit. Ein Augenschein in Winterthurs Strassenszene.

Aus dem Nichts ist da plötzlich diese Treppe, die in den Untergrund führt. An Betonwänden und Stahltüren vorbei kommt man in einen Raum, der mit einigen Holztischen ausgestattet ist. Das Deckenlicht im Luftschutzraum ist grell, das Ambiente frostig und ungemütlich. Die Tischsets und das Besteck sind bereits auf den Tischen verteilt. Rita Keller Amberg, seit Anfang März Leiterin der , begrüsst die ersten Anwesenden warmherzig. Sie gibt allen die Hand, darauf legt sie besonderen Wert. . Ein Hund streicht den Neuankömmlingen um die Beine, der neuste Klatsch wird ausgetauscht. Seit Mitte April ist der Standort der vorübergehend in dieses Provisorium verlegt worden, weil die eigene Lokalität an der St. Gallerstrasse umgebaut wird. Die Zivilschutzanlage wurde von der Stadt zur Verfügung gestellt. Etwa ein halbes Jahr wird man hier verweilen müssen, abgeschnitten von Sonne und Wärme. Denn die Randständigen werden nicht gerne gesehen. Rita erzählt, dass bereits in den ersten Tagen Reklamationen ins Haus flatterten. Die Zivilschutzanlage befindet sich unmittelbar neben der Berufswahlschule, und die Schulleitung bemängelte, dass die Gassenleute nach dem Mittagessen an der frischen Luft eine Zigarette oder das eine oder andere Bier konsumierten. Rita erzählt: Obwohl sie ein gewisses Verständnis dafür aufbringen kann, hat sie Mühe mit der allzu augenscheinlichen Diskriminierung ihrer Gäste. Auch Trix, zweifache Mutter und Fürsorgeempfängerin, findet es daneben, dass man sie in den Keller sperrt. Sie ging selbst einmal in dieses Schulhaus zur Schule, gibt aber offen zu, dass sie . Trix ist heute für die Zubereitung der Mahlzeit zuständig. Diese Arbeit wird mit zwölf Franken entlöhnt, soll aber eigentlich kein Lohn sein, sondern mehr . Denn das Prinzip der ist es, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. , erklärt Rita. Heute gibt es Schweinsplätzchen mit Salat. Das kostet die Randständigen vier Franken, im Preis inbegriffen sind ein Getränk und eine Tasse Kaffee. Während man den Salat rüstet, wird über offene Wohnungen debattiert. Trix ist auf Wohnungssuche, was eine echte Knacknuss ist für Leute mit Suchtproblem. Vorübergehend konnte sie bei Freunden unterkommen, doch ihre zwei Kinder, zehn und fünf Jahre alt, mussten für die Überbrückungszeit bei einer Pflegefamilie untergebracht werden. Das hat ihr fast das Herz gebrochen.

Gassenmutter mit Herz

Drahtzieher der ist der Verein , bei dem Rita angestellt ist. Der Verein wurde im Jahr 2000 ins Leben gerufen und hat jährlich 60 000 Franken zur Verfügung, das sich aus Spendengeldern von Stiftungen und sozialen Institutionen zusammensetzt. Die Stadt Winterthur spendet einen jährlichen Beitrag von 5000 Franken. Von Zeit zu Zeit erhält die Spenden in Form von Naturalien, die in Restaurants oder nach Sitzungen nicht mehr gebraucht werden. Es kommen immer die gleichen Leute aus der Szene hierher. Rita kennt sie alle, und sie kennt auch deren Geschichten. Sie redet mit den Leuten, nimmt sie Ernst, leistet praktische Hilfestellung. Ab und zu fungiert sie als Vermittlerin zwischen den Behörden und ihren Schützlingen. , betont sie. Inzwischen ist es fast Viertel vor zwölf. Trix lässt Bratöl in die Pfanne tröpfeln. Ihre Bewegungen sind geschickt, sie ist flink und arbeitet routiniert. Sie ist dünn, sehr dünn. Doch das komme nicht vom fixen, sie sei schon immer so gewesen. Gesundheitlich geht es ihr im Moment gut, abgestürzt ist sie schon länger nicht mehr. Die ersten Leute treffen ein. Man klopft sich auf die Schultern, wechselt ein paar Worte. Die Leute sind sehr unterschiedlichen Alters, fast alle machen einen gepflegten Eindruck, nur die Kleider sind manchmal etwas schmutzig. In der Küche holt man sich seinen Teller, Rita nimmt das Geld entgegen. Ist jemand mal knapp bei Kasse, darf er trotzdem bleiben. Rita weiss, dass sie das Geld bekommen wird. Sie verhält sich freundlich, verständnisvoll und diskret. Über jeden hat sie etwas zu erzählen, ein junger, dunkelhäutiger Mann kann besonders gut Graffitis machen, ein anderer arbeitet Halbtags. Die meisten der Gäste jedoch leben von der Fürsorge oder der IV.

Anwalt der Strasse

In der Schweiz leben heute nach Schätzungen von Walter Schmid, Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) gegen
300 000 Menschen von der Sozialhilfe. Das sind 25 000 mehr als im Vorjahr. Im Kanton Zürich sind es 36 400 Personen, was einem Bevölkerungsanteil von 2,9 Prozent entspricht. In Winterthur macht es 4,2 Prozent aus, also 3937 Personen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Winterthur zieht arme Leute an. Einer, der die Szene so gut kennt wie kein zweiter, ist Max Zeller, seit 15 Jahren am Puls des Geschehens auf der Strasse. Der schwere Mann ist selber ein ehemaliger Alkoholiker, zwischen 1970 und 1980 war er alkoholkrank und hat sich nach eigenen Angaben selbst therapiert. , sei die Szene in Winterthur. Momentan gehören dieser Familie ungefähr siebzig bis achtzig Leute an. Max Zeller nennt seine Schützlinge , sieht sich als Anwalt der Leute auf der Strasse. Er verhandelt mit der Polizei, der Fürsorge, dem Stadtrat, ist vernetzt mit den Beratungsstellen, den Kirchen und der Strassenarbeit. Der 60-jährige Zeller ist wie auch Rita Keller Amberg vom Verein angestellt. Er war es auch, der die vor elf Jahren überhaupt initiiert hat. Inzwischen ist er nur noch auf der Strasse tätig, kümmert sich um das Wohlergehen der Leute am Musikpavillon. In der breiten Bevölkerung sei der Musikpavillon als Treffpunkt für Suchtkranke erstaunlich gut akzeptiert. Zur Akzeptanz beigetragen hat laut Zeller sicher auch der DOK-Film von SFDRS, der vor vier Jahren ausgestrahlt wurde. Annemarie Friedli hat darin Randständige vom Musikpavillon einige Monate begleitet. Mehr Unzufriedenheit als unter der Bevölkerung gibt es bei den Gewerbetreibenden rund um den Pavillon, wie dem Kaufhaus Manor oder dem Restaurant Steinfels. Sie beschweren sich über Umsatzeinbussen, weil ihre Kunden sich durch die Randständigen gestört fühlten. Ausserdem gab es beim Manor immer wieder Diebstähle. Des Lobes voll ist Max Zeller hingegen für die Stadtpolizei Winterthur. Es gebe einige, vor allem ältere Polizisten, die eine soziale Ader hätten und wirklich Verständnis zeigten für die Anliegen der Gassenleute. Trotzdem steht der Stadtrat unter Druck, im Herbst soll der Musikpavillon geschlossen werden. Die Drogenkommission müsse Zeller jetzt Vorschläge unterbreiten, wo der neue Treff für Suchtkranke eingerichtet werden soll. Wenn keine Alternative gefunden wird, bleibt die Szene, wo sie ist. Zeller: . Die Stadt mache ihre Sache so gut es gehe, doch der grössere Arbeitsanfall beim Sozialamt hinterlässt seine Spuren. Trix erzählt, dass ihr heute nur noch eine Viertelstunde Gesprächszeit bei ihrer Sozialberaterin gewährt wird, früher war es eine ganze Stunde. Ihr fällt auf, dass sie sofort anders behandelt wird, sobald eine Drittperson dabei ist. . Genau da setzt Zellers Arbeit an. Alle paar Monate nimmt er sich für jeden einzelnen eine Stunde Zeit. Das Gespräch ist ihm wichtig. Den Leuten mangle es oftmals nicht am Materiellen, sondern an menschlicher Wärme. Der sagt über seine , dass sie enorm sensibel und unsicher, oft auch misstrauisch seien. Zeller nimmt sie ernst, gibt ihnen ihre Würde zurück. In dieser Hinsicht ist Max Zeller auch ein geistiges Kind von Pfarrer Ernst Sieber. Zeller berührt seine Schützlinge gerne, so wie es Ernst Sieber immer zu tun pflegt. Die Grenzen richtig abzuschätzen, sei bei seiner Form von Gassenarbeit jedoch manchmal schwierig.

Mit winzigen Schritten und Engelsgeduld

Der gewichtigste Begleiter auf der Strasse ist und bleibt aber immer der Konsum, die Sucht. Von Zellers Standpunkt aus ist die Abstinenz eher unrealistisch. Ziel muss es sein, die Leute zum massvollen Konsum von Alkohol oder anderen Suchtmitteln zu bewegen. Man müsse lernen, mit seiner Sucht zu leben. Inzwischen ist es ruhiger geworden in der . Heute hatte es eher weniger Gäste, normalerweise sind es um die zwanzig. Nach dem Essen machen sich alle schnell davon, schliesslich spiele sich der Sonnenschein draussen ab, wie einer der Gäste es ausdrückt. Rita sitzt noch mit einigen wenigen plaudernd am Tisch. Im Luftschutzkeller wird es langsam kühl. In einem kühlen Umfeld warme Herzen erzeugen. So könnte man die Arbeit von Max Zeller und Rita Keller Amberg beschreiben. Die elfjährige Existenz ihrer gibt ihnen Recht.

31.08.2005

Diese Reportage entstand anlässlich eines Wettbewerbs der Zürcher Hochschule Winterthur (ZHW) und wurde aus insgesamt hundert Arbeiten ausgewählt als eine der neun nominierten Reportagen für den Siegerplatz. Der Text wurde nie in einer Zeitung veröffentlicht.

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