Winti – Mittelpunkt meines Universums

Eine Liebeserklärung

Was unterscheidet Winterthur von anderen Städten? Die Banalität dieser Frage würde nicht auf die Komplexität der Antwort schliessen. Denn was man liebt, ist bekanntlich am Schwierigsten zu beschreiben.


Winterthur ist die sechstgrösste Stadt der Schweiz. Eigentlich ein durchaus ansehliches Prädikat, das klingt doch nicht schlecht. Winti hat jedoch ein Problem: Die Stadt hat kein Wahrzeichen. Keine Burg, kein berühmtes Künstler-Haus, kein archetektonisches Meisterwerk - nichts, was die Massen anziehen würde oder einen Besuch wenigstens rechtfertigte. Das nach Plänen des Zürcher Architekten Oliver Schwarz erbaute Stadttor - jene Stahlgitter-Konstruktion am Hauptbahnhof - ist auch nicht viel mehr als ein netter Versuch, der Stadt nach rein objektiven Kriterien ein Gesicht zu geben. Die „Visitenkarte von Winterthur“, so der Werbeslogan, bereitet seit der Eröffnung im Jahr 2000 Probleme. Andere Städte in ähnlicher Grösse hingegen haben durchaus Sehenswürdigkeiten vorzuweisen, wie zum Beispiel St. Gallen mit seiner Stiftsbibliothek. Winterthur ist keine Stadt für Touristen. Winterthur ist eine Stadt zum Erspüren und Eintauchen. Das braucht Zeit.

Russ und Dreck in jüngster Vergangenheit

Noch vor 30 Jahren galt Winterthur als die grösste Industriestadt der Schweiz. Über 50 Prozent der Winterthurer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer war einst in der Schwerindustrie tätig und halfen tagtäglich mit, monströse Schiffsmotoren oder Lokomotiven herzustellen. Inzwischen ist der Russ und der Rauch von den Dächern Winterthurs abgezogen, und die leer stehenden Hallen des Sulzerareals werden von innovativen Köpfen vielfältig umgenutzt. Das Areal ist in ständigem Wandel und hat ein fast unerschöpfliches Potential. Auf einer Fläche so gross wie die Altstadt sind Restaurants, Bars, eine Musical-Halle, Internetfirmen, Handwerker und mit den Lofts an der Kesselschmiede nun auch der erste Wohnraum entstanden. Weitere Wohnungen befinden sich noch in der Bauphase. Der Fotograf Manuel Bauer wohnt im Sulzer-Gelände und bringt es im Winterthurer Stadtführer auf den Punkt: „Was mich von Anfang fasziniert hat, war die Stimmung auf dem Areal. Sie gibt einem das Gefühl, als würde gleich hinter der Ecke ein Hafen und das Meer liegen.“

Die richtige Grösse

Winterthurs Ruf als Büezerstadt dauerte lange Zeit an. Erst jetzt wird die Stadt von der übrigen Schweiz auch langsam als das wahrgenommen, was sie geworden ist: Eine Stadt im Begriff des Wandels und des Umbruchs. In der Altstadt schliessen und öffnen laufend neue Geschäfte und Restaurants. Die Vielfalt und Prosperität kann durchaus mit jener einer Grossstadt verglichen werden, und doch hat Winti eine angenehme Grösse: Die Anonymität einer Metropole ist im kleinen Ausmass gegeben, dabei bleibt die Stadt aber immer greifbar. Die Menschen, die in ihr wohnen, können zwar noch als Individuen wahrgenommen werden, gehen aber doch manchmal in der Masse unter. So passiert es mir in Winti dauernd, dass ich bestimmten Personen immer wieder begegne, sie überall sehe und sie doch nicht kenne. In einer Welt, die manchmal beinahe aus dem Ruder zu laufen droht, gibt mir das ein beruhigendes Gefühl der Sicherheit. Winti ist der Mittelpunkt meines Universums, weil mir diese Stadt so etwas wie Geborgenheit vermittelt, ohne mir meine individuelle Freiheit zu rauben.

Stil und Charakter

Vielerorts hört man immer wieder, dass in Winterthur das Gewässer fehlt. Diesen Gedanken griff vor ein paar Jahren der der Holzbildhauer Erwin Schatzmann auf, als er eine Volksinitiative für einen See in Winterthur einreichte. Der geplante Waldeggsee, der am Fusse des Eschenbergs erbaut werden sollte, wurde aber an von der Bevölkerung an der Urne klar verworfen. Winterthur verfügt jedoch auch so über ein Naherholungsgebiet, schliesslich ist die Stadt rundherum von Wald umgeben und hat mit dem Bäumli einen sehr romantischen Aussichtsplatz mit Blick über die ganze Stadt. Winti hat Stil und Charakter – auch ohne See. Das Einzige, was Winti fehlt, ist meiner Meinung nach ein Restaurant mit zwei oder drei ganz langen Tischen. Damit du auch einmal mit jenen Leute am gleichen Tisch sitzen kannst, die in derselben Stadt leben wie du und die man regelmässiger sieht als den Onkel oder die Grossmutter; mit denen man aber noch nie ein Wort gewechselt hat. Da nicht Winterthur sondern Zürich Dreh-und Angelpunkt des Kantons ist, bleibt Winti halt doch Provinz, weil sie Nischenkultur hervorbringt und entdeckt wird, friedvoll ist, lebt und Überraschungen bereit hält. Und wie bei allem, was wir lieben, ist es letztendlich die Mischung, die den Reiz daran ausmacht.


Erschienen im Dezember 2003 in sifon, die junge Zeitschrift Winterthurs

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