Luxusgut Raum

Die Ausstellung «Sulzerareal – gestern, heute, morgen» in der City-Halle zeigt die Entwicklung des Sulzerareals von einer industriellen Arbeitsstätte zur Vision eines urbanen Wohn- und Lifestyle-Quartiers.

Die Uhr hat keine Zeiger mehr, nur noch das Zifferblattskelett hängt senkrecht von der Decke. Einst war diese Uhr da, um emsigen Fabrikarbeitern die Stunde bis zum Feierabendschlag anzuzeigen. Heute steht sie symbolisch für die Vergänglichkeit des einst blühenden Industriezweigs in Winterthur. Hier, im Dachgeschoss der City-Halle, ist die Ausstellung «Sulzerareal – gestern, heute, morgen» untergebracht. Der Raum ist lichtdurchflutet, die unverkennbare Industrie-Atmosphäre wirkt auf den Besucher nett und einladend. Wenn man von der grossen Fensterfront hinunterschaut, schweift der Blick weit über die Dächer Winterthurs.

Der Ort ist gut gewählt, um der Entwicklung des Sulzer-Areals zu gedenken. Die Geschichte der Sulzerwerke ist untrennbar verbunden mit der Entwicklung der Stadt Winterthur. Ein Zeitstrahl mit den Eckdaten zeigt dies deutlich auf. Stahl und Eisen haben diese Stadt geprägt und ihr für 150 Jahre ein unverkennbares Gesicht verliehen. Auf dem 150 000 Quadratmeter grossen Areal südwestlich des Bahnhofs stellte die Firma Sulzer ab 1834 Dieselmotoren und Turbinen für Schiffe her. Noch heute schippern die meisten Schiffe mit Sulzer-Dieselmotoren über die Weltmeere. Der Konzern leistete damals auf seinem Gebiet Pionierarbeit. Filmdokumente in der Ausstellung zeigen eindrücklich, wie viele Menschen es waren, denen Sulzer Arbeit geboten hat. Nach Feierabend bildeten sich auf den Strassen rund um das Sulzerareal jeweils Menschentrauben, die zu Fuss oder per Fahrrad nach Hause strömten, um sich dort vom harten Fabrikalltag zu erholen. Sulzer stellte ihren Arbeitern kleine Häuschen zur Verfügung, um sozialen Unruhen vorzubeugen. Die Ausstellung transportiert die Emotionen sehr gut, die mit dem Untergang der Industrie einhergingen: Sulzer war mehr als eine Firma. Sie war eine eigene Lebenswelt, ein Stadtteil für sich, ein abgeschlossener Kosmos. Nach dem endgültigen Untergang der Schwerindustrie in den 80er Jahren verloren Tausende von Fachkräften deshalb nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihr Leben, ihre Identität.

Die Menschen gingen, was zurück blieb, war der Raum. Für die Schiffskonstruktion waren riesige Fabrikhallen nötig gewesen, die mit dem Wegzug der Industrie zu Brachen wurden. In der kleinräumigen Schweiz gab es daher plötzlich Raum zum Verschwenden, Raum um sich auszutoben und zu experimentieren. Und der erst noch günstig anzumieten war. In der Folge richteten sich deshalb Künstlerateliers, alternative Bars, Läden und Büros in der ehemaligen «verbotenen Stadt» ein, um das fortzuführen, was die Sulzer einst im Guten begonnen hatte: Ein Platz zu bieten, an dem Menschen sich zu Hause fühlen.

Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft

Auch für die Besitzerin des Areals, die Sulzer Immobilien AG, ist die derzeitige Zwischennutzung laut Geschäftsführer Martin Schmidli eine befriedigende Lösung: «Die Zwischennutzung schlägt eine Brücke zwischen dem, was gewesen ist und dem, was kommen wird», meint er in einem der SF-Filmbeiträge. Und weiter: «Die Identität des Sulzer-Areals soll erhalten bleiben, ohne neue Entwicklungen zu verhindern». Doch das wirkt ein wenig heuchlerisch angesichts der Tatsache, dass die Sulzer Immobilien AG auf 150 000 Quadratmetern Raum sitzt, noch dazu an bester Lage, die sie zu viel Geld machen könnte. Das Problem dabei ist, dass die allermeisten der Industriegebäude unter Denkmalschutz stehen. Das macht die Planung und den Bau teuer. Das Projekt «Megalou» beispielsweise scheiterte grandios. Beim 200-Millionen-Projekt von Star-Architekt Jean Nouvel war in amerikanischen Grössenverhältnissen geplant worden: Auf 40 000 Quadratmetern Bruttogeschossfläche hätte ein Einkaufs-, Dienstleistungs- und Vergnügungszentrum entstehen sollen. Nur finanzieren wollte es niemand. Die Baubewilligung lief aus, bevor der erste Spatenstich ausgeführt werden konnte. Obschon das Projekt «Megalou» in der postindustriellen Nutzungsgeschichte des Areals so etwas wie eine Kehrtwende darstellt, wird es in der Ausstellung nicht besonders herausgehoben. Die Informationen sind zwar vorhanden, aber man muss sie sich mühsam zusammen suchen.

Inzwischen hat man gelernt und versucht nun in kleinen Schritten, sein Ziel zu erreichen. Bereits sind grosszügige Lofts entstanden, und letztes Jahr sind zwei weitere Wohnbauprojekte in Angriff genommen worden. Die Reurbanisierung ist somit in vollem Gang. Im Sulzer-Areal wird alt und neu kombiniert und somit kreieren die Planer gleichzeitig die Vision eines neuen, modernen Menschen: Der gut verdienende Mensch, der zwar die Vorteile der Stadt geniessen möchte, aber ihre Nachteile, nämlich die engen Platzverhältnisse und der Verkehr, möglichst aus seinen Alltag verbannen möchte. Die Belebung des Sulzer-Areals auf diese Weise ist erklärtes Ziel der Besitzerin, das kommt in der Ausstellung deutlich zum Ausdruck. Die Nutzung des Sulzerareals in der postindustriellen Ära als urbaner Freizeitpark ist wahrscheinlich typisch für eine Gesellschaft, die zunehmend vom Freizeitmenschen geprägt wird. Der Arbeitsmensch, so wie ihn die Sulzer einst repräsentierte, verliert an Bedeutung.

Roter Faden fehlt

Das eigentliche Herzstück der Ausstellung ist die Präsentation von elf Testplanungs-Projekten des Katharina-Sulzer-Platzes. Die etwas lieblos an die Wände gehefteten Pläne mögen für Architekten interessant sein, für das Laienpublikum fehlen jedoch Erklärungen, die das Testplanungs-Verfahren in einen übergeordneten Zusammenhang stellen. Der rote Faden der Ausstellung ist sowieso ein Thema für sich. Einen klaren Aufbau gibt es nicht, der Besucher wird nicht anhand einer klaren Linie durch die Ausstellung geführt. Schön wäre es auch gewesen, mit diesem Raum zu arbeiten, ihn in die Ausstellung mit einzubeziehen, zumal es im hinteren Teil des Raumes auf einer kleinen Anhöhe eine Art «Beobachtungsposten» gegeben hat, der zu Fabrikzeiten wahrscheinlich dazu diente, die Arbeiter überblicken und kontrollieren zu können. Auf diese Weise hätte diese Industrienostalgie noch deutlicher gemacht werden können.

Die Ausstellungsmacher scheinen das gleiche Problem gehabt zu haben wie die unzähligen Planer und Architekten, die das Sulzerareal im Verlauf seiner neueren Geschichte als ihre Spielwiese betrachtet haben und sich gedanklich darauf austobten: Wohin mit diesem vielen Raum? Es scheint fast so, dass übermässig viel Raum in der Schweiz Überforderung auslöst. Jedenfalls repräsentiert das Chaotische dieser Ausstellung weniger die Vision des urbanisierten Menschen, sondern mehr dieser kreative Übergangs- und Ablösungsprozess, der den Wandel auf dem Sulzerareal die letzten Jahre vorangetrieben hat. Wandel lässt sich eben nicht planen, Wandel muss entstehen, mit den Menschen und aus ihnen heraus. Das urbane Wohn- und Lifestyle-Quartier bleibt jedenfalls zumindest vorerst eine Vision.

19. 06. 2006
Dieser Text ist unveröffentlicht und entstand im Rahmen einer Prüfung an der Zürcher Hochschule Winterthur (ZHW)

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