Der Distel-Mann

amazonenWir waren ungefähr siebzehn oder achtzehn, als meine Freundinnen und ich im Zug – damals, als es noch Raucherabteile gab - einen kauzigen Typen kennen lernten. Auf der Ablage befand sich eine Distel. Wir kamen ins Gespräch und er erklärte uns, die Distel sei ein Geschenk für seine Freundin, die nächste Woche in die Ferien fahre. Eine rote Rose oder eine Sonnenblume würde schnell verwelken und könne sie auch nicht mitnehmen, eine Distel hingegen wäre länger konservierbar. Die Freundin war gleichzeitig die Freundin seines Bruders. Beide Männer hatten etwas mit derselben Frau und alle drei wohnten im gleichen Haushalt.
Die Geschichte faszinierte uns wohl, aber irgendwie fanden wir sie auch abstossend. Ich weiss noch, wie wir uns bei ihm darüber empörten. «Wie kannst Du das nur machen?», fragen wir ihn. Er lachte nur und fragte, wie alt wir seien. Als wir es ihm sagten, meinte er nur: «Ihr seid jetzt erst achtzehn. Ich bin fünfundzwanzig, da relativieren sich solche Dinge. Wartet nur, ich werdet schon sehen». Ich habe das all die Jahre hindurch nie mehr vergessen. Heute bin ich selber fünfundzwanzig und es dämmert mir, dass er absolut Recht hatte.

Mit achtzehn hat man noch das Ideal der einzigen, wahren grossen Liebe. Man wünscht sich tausend rote Rosen, die vom Himmel regnen oder dann den schmerzlichsten Liebeskummer aller Zeiten, natürlich mit Suizidgedanken. Man lebt und denkt in den Extremen, schwarz oder weiss. Grautöne existieren nicht. Mit der Zeit, je älter man wird, passen sich die hohen Ansprüche immer mehr der Realität an. «Wir werden grau», nennen es der Eremit und ich. Man ist schon zufrieden, wenn man eine Liebe hat, es muss nicht unbedingt die grosse sein. Man schenkt plötzlich Disteln, weil die einfach viel länger haltbar sind als rote Rosen. Man wird vom Dogmatiker zum Pragmatiker. Natürlich nicht nur in der Liebe, sondern in vielen anderen Lebensbereichen. Irgendwie fängt man an, sich ein bisschen durchzumogeln durch ein Projekt, das unser Leben bedeutet.

Der Eremit und ich haben vor kurzem lange über dieses Thema geredet. «Wir werden grau», grau als die Farbe zwischen weiss und schwarz. Es ist die fatale Erkenntnis, dass auch wir vor dem Erwachsenwerden nicht verschont bleiben.
Nun geht es eigentlich nur noch darum, möglichst lange so wenig grau wie möglich zu bleiben. Oder das Blaue reinzubringen, das die so eigentümliche Farbe der Distel ausmacht. Blau als die Farbe der Weite, des Himmels und des Meers. Auch der Distel-Mann war so ein Typ: Er machte in seiner offensichtlichen Grauheit doch noch einen ziemlich unkonventionellen Eindruck. Und immerhin hatte er die Fähigkeit, darüber zu reflektieren, was mit ihm geschah. Ich finde es schön, dass meine Freundinnen und ich schon über so viele Entwicklungsstufen hinaus auf ein gemeinsames Leben blicken können. Mit ihnen macht sogar das grau werden irgendwie Spass.

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