Vallotton und ich: Eine Annäherung an das Gemälde "La Blanche et la Noir" von Felix Valloton

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Der Geschlechterkampf ist in Vallottons Werk ein zentrales Thema, und genau das gefällt mir an seinen Bildern. Auch mir ist das Thema der Geschlechterverhältnisse ein Anliegen, was sich auf ähnliche exzessive Art wie bei Vallotton bei mir in meinem Schreiben niederschlägt. In einem der bedeutendsten Werke Vallottons, dem Gemälde «La Blanche et la Noire» von 1913, ist jedoch ausnahmsweise kein Liebespaar dargestellt. Vallotton hat zwei Frauen auf die Leinwand gebannt, zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Die Frau mit der weissen Haut ist vollständig entblösst, sie liegt auf einem blütenweissen Laken und scheint zu schlafen oder wenigstens zu ruhen, ihre Wangen sind stark gerötet. Auf ihrer Bettkante sitzt eine schwarze Frau und betrachtet die Schlafende unverwandt, sie ist vollständig angezogen und trägt Accessoires wie eine Kette, Ohrringe und einen grell-orangen Hut. Der Kontrast, den Vallotton hier erschaffen hat, zieht den Betrachter augenblicklich in seinen Bann. Das einzige bildende Element zwischen den beiden Frauen scheint die rote Farbe zu sein. Rot für das Leben, rot wie das Feuer. Rot wie das Menstruationsblut der Frau. Im Mundwinkel der Schwarzen steckt lässig eine brennende Zigarette. Dieses winzige Detail verleiht dem Bild etwas Bösartiges, Hinterhältiges. Der Blick der Schwarzen drückt Verachtung aus, sie scheint sich der Weissen überlegen zu fühlen. Ihre Körperhaltung verrät, dass sie sich unbeobachtet fühlt.

Herrin und Dienerin
Wollte Vallotton den äusserst flüchtigen Moment festhalten, als die Weisse gerade im Begriff ist, die Lider aufzuschlagen und die Schwarze in ihr Blickfeld gerät? Was geschieht danach? Wird die Weisse einen grossen Schrecken davontragen, weil sie feststellen muss, dass jemand sie so ungerührt betrachtet? Oder hat sie die Anwesenheit einer anderen Person im Raum bereits gespürt und ist deshalb nur bedingt überrascht vom Anblick der Schwarzen auf der Bettkante? Mindestens genauso spannend ist es, sich die Reaktion der Schwarzen vorzustellen: Wird sie den Blick abwenden, peinlich berührt und – ihre Toga zusammenraffend, eilig das Zimmer verlassen? Oder wird sie selbstbewusst den Blick der Weissen erwidern, vielleicht sogar mit einem süffisanten Lächeln? Es müsste das Lächeln einer Mitwisserin sein. Die beiden so unterschiedlichen Frauen teilen vielleicht ein Geheimnis. Vielleicht war die Schwarze stumme Zeugin von etwas, das nie für ihre Augen bestimmt gewesen wäre. In ihrer Rolle als Dienerin hat sie womöglich gesehen, wie ihre Herrin in den Nachmittagsstunden fremde Männer empfängt.

Brennende Zigarette als Provokation
Einiges spricht für diese These, denn Vallotton hat auch in anderen Bildern immer wieder Ehebrecherszenen dargestellt. Ausserdem braucht es nicht besonders viel Fantasie, um zu erahnen, dass die Erschöpfung der weissen Frau vom soeben erfolgten Akt herrührt. Die geröteten Wangen, ihre Nacktheit und das steile Aufstehen ihrer Brustwarzen scheinen diesen Verdacht noch zu verstärken. Nachdem die Sklavin vernommen hatte, wie die Türe ins Schloss fiel, schlich sie sich vielleicht auf leisen Sohlen ins Schlafgemach ihrer Herrin, von Neugier getrieben. Nur etwas will hier nicht so ganz ins Bild passen: Die brennende Zigarette. Sie deutet darauf hin, dass die Dienerin ihrer Herrin ganz ohne schlechtes Gewissen hinterher spioniert. Es scheint ihr völlig gleichgültig zu sein, ob sie von ihrer Ungezogenheit erfahren wird – ja man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass sie es genau darauf angelegt hat. Mit der brennenden Zigarette fordert die Dienerin das Aufwachen ihrer Herrin geradezu heraus. Vom Geruch einer brennenden Zigarette wird nämlich auch jemand wach, der tief und traumlos schläft. Doch was für ein Interesse könnte die Dienerin daran haben? Wäre das nicht bereits ein Entlassungsgrund?

Eine Bordellszene?
Manche Leute vertreten die Ansicht, das Bild sei die Darstellung einer Bordellszene. Die Zigarette würde für diese These sprechen, doch dann stellt sich abermals die Frage: Was bewegt die Schwarze zu diesem Blick, der absolute Geringschätzung ausdrückt? Vielleicht fühlt sie sich einer Weissen endlich ebenbürtig, weil beide dem gleichen Geschäft nachgehen und ihre Körper verkaufen. Allerdings bezweifle ich, dass die Weisse so friedlich schlafen würde, wenn sie nur einen Freier verabschiedet hätte. Freudenmädchen kommen mit einem Freier so gut wie nie zu einem Orgasmus. Das war früher sicher auch nicht anders als heute.

Anprangern von Herrschaftsverhältnissen
Zweifelsohne wird dieser auf Leinwand gebannte Moment das Verhältnis der beiden Frauen für immer verändern. Der Aufpasser im Museum äusserte mir gegenüber die Vermutung, dass Vallotton ein gestörtes Verhältnis zu Frauen gehabt hat. Doch ich sehe einen anderen Aspekt: Vallotton war ein sehr genauer Beobachter der Verhältnisse zwischen Mann und Frau. Er hat den Frauen hinter die Fassade geblickt, geradewegs, und etwas in ihrer Natur gesehen, vor dem viele Menschen seiner Zeit die Augen verschlossen: Dass auch Frauen stark sind und Macht ausüben können. Vallotton erkannte, dass Frauen ihre Macht oftmals viel subtiler ausüben und die Männer zudem noch im Glauben lassen können, sie allein hätten die Zügel der Macht in ihren Händen.

Auch in «La Blanche et la Noire» beschreibt Vallotton Herrschaftsverhältnisse. Die beiden Frauen von völliger unterschiedlicher Herkunft und Rasse stammen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, sind nicht der gleichen Muttersprache mächtig und befinden sich nicht in derselben Lebensrealität. Auf den ersten Blick haben sie nichts, aber auch gar nichts gemeinsam. Als die Dienerin erkannt hat, dass sie durch das Wissen um den Ehebruch ihrer Herrin an Macht gewinnt, fühlt sie sich weniger ausgeliefert, verletzlich und machtlos. Stattdessen sieht sie zum allerersten Mal Verletzlichkeit in dieser nackten weissen Frau, die so friedlich auf dem Bett liegt und schläft, als wäre sie tot. Es geht auch um das Stichwort Selbstermächtigung. Die schwarze Dienerin nimmt sich das Recht heraus, ihre nackte Herrin beim Schlafen zu betrachten und in deren Schlafzimmer eine Zigarette zu rauchen. Damit befreit sie sich aus jeglichen gesellschaftlichen Normen, sprengt sämtliche Konventionen.

Vielleicht fühlt sie sich aber auch zum ersten Mal auf eine eigenartige Weise mit ihrer Herrin verbunden: Denn trotz den vielen trennenden Elementen bleiben die beiden Frauen doch durch ihre Körperlichkeit miteinander verbunden, was Vallotton durch die roten Farbtupfer symbolträchtig inszeniert hat. Ihr Körper, der die gleiche blutige Sprache spricht und die gleichen Bedürfnisse hat.

Ein Skandalbild
«La Blanche et la Noire» ist ohne Zweifel ein erotisches Bild. Zur Zeit seiner Entstehung wurde es als Skandalbild gehandelt. Es heisst, dass die Mädchen der Familie Hahnloser, die in der Villa Flora Tür an Tür zum Gemälde aufwuchsen, erst nach ihrem 16. Geburtstag die Erlaubnis erhielten, Vallottons skandalumwittertes Gemälde zu betrachten. Doch eigentlich ist es nicht der Frauenakt, der skandalwürdig ist, sondern vielmehr die Tatsache, dass ein Mann des frühen 20. Jahrhunderts es bereits gewagt hat, gesellschaftliche Machtverhältnisse anzuprangern. Die Gesellschaft war dafür jedoch überhaupt noch nicht bereit. Lange vor der sexuellen Revolution störte man sich vor allem an der frechen Darstellung zweier nackter Frauen, man empfand es als anrüchig und zügellos. Die eigentliche Bildaussage ging dabei verloren. Vielleicht war diese Erkenntnis ernüchternd für einen Künstler wie Vallotton. Und es bestätigt einmal mehr das Klischee eines Künstlers, der seiner Zeit voraus ist.

Dieser Text ist im Februar 2008 enstanden.
Das Originalbild ist zu betrachten in der Villa Flora, Winterthur.

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