Der Zug ist abgefahren

Komme ich jetzt also auch schon ins Alter, wo man sich für gewisse Dinge einfach «zu alt» fühlt? Bewusst wurde mir das, als ich neulich ziemlich lange in einem Café sass. Und während am Nebentisch zu meiner Rechten ein Pärchen sich leise, dafür mit umso heftigeren Worten stritt, wartete zu meiner Linken eine junge Frau, das Handy am Ohr, auf ihren Mathe-Nachhilfelehrer. «Ich habe jetzt dann gleich Mathe-Nachhilfe», liess sie die Person am anderen Ende wissen. «Also dann bis heute Abend», fügte sie abschliessend hinzu und legte auf. Und dann kam er auch schon atemlos angehetzt, die Nachhilfskraft, kaum älter als sie, vielleicht sogar ihr Mitschüler. Die Nachhilfestunde konnte beginnen. Der Anblick der zwei in ihre Bücher vertieften jungen Leute beflügelte meine Fantasie und ich malte mir aus, wie die beiden sich, über Formeln und Primzahlen gebeugt, ineinander verliebten.

Und plötzlich fragte ich mich: Warum habe ICH mich eigentlich nie in meinen Nachhilfelehrer verliebt? Könnte es eventuell daran liegen, dass ich gar nie einen Nachhilfelehrer hatte? In diesem Moment der Klarheit machte sich die ernüchternde Erkenntnis in mir breit, dass es in meinem Leben kaum mehr je die Gelegenheit geben wird, mich in meinen Mathe-Nachhilfelehrer zu verlieben. Meine Schulzeit ist vorüber und von der Mathematik lasse ich für den Rest meines Lebens besser die Finger. Mädel, dieser Zug ist definitiv abgefahren. Eines der vielen Klischees, die ich ausgelassen habe. Oder besser: Das Klischee hat mich ausgelassen.

Bei der Arbeit erwischte mich nochmals ein Klischee kalt im Nacken: Das Klischee des «Schatzi-Taxis». Wenn die jüngere Arbeitskollegin, ungewohnt heiter bei der Aussicht auf den nahenden Feierabend, geschwind ihren Kram zusammenpackt und zur Tür hinaus tänzelt, federleicht und frisch wie die Sommerbrise am Meer. Grund für die gute Laune: Der (wahrscheinlich ältere), coole Freund mit Lederjacke, der bereits ein eigenes Auto hat, holt sie von der Arbeit ab. Gemeinsam brausen sie davon, die Haare der jungen Frau flattern im Wind. Und ich schaue wehmütig hinterher. Das war doch richtig cool, damals! Heute wäre es für meine Freundinnen kaum etwas Weltbewegendes, käme ich mit einem Lederjacken-Freund mit eigenem Auto daher.

Wohl oder übel müssen wir uns damit abfinden, dass der Zug für gewisse Erlebnisse den Bahnhof bereits verlassen hat – und uns am Bahnsteig zurückgelassen hat. Klischees im passenden Alter sind süss – Klischees, die für ein Alter gedacht sind, das nicht unserem eigenen entspricht, sind einfach nur peinlich.

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