Mein Körper und ich möchten verreisen

Manchmal verspüre ich diese unbändige Lust, eine längere Reise zu unternehmen und damit mein eigenes Selbst zur Disposition zu stellen. Sämtliche Bindungen zu lösen, alte Fesseln loszuwerden, Abstand zu gewinnen, vom eigenen Leben, und manchmal auch vom eigenen Selbst. Die Schriftstellerin Francesca Marciano hat einst gesagt: «Ein Reisender ist jemand, der eingewilligt hat, die Kontrolle aus der Hand zu geben.» Menschen reisen – soviel ist mir klar – aus ganz unterschiedlichen Gründen. «Daheim-Menschen» finden reisen vor allem anstrengend. Für sie ist es ein energetisches Problem, und zwar gleich auf zwei Ebenen: Einerseits ist da die physische Anstrengung. Um einen Körper von A nach B zu bewegen, muss Energie freigesetzt werden, lernen wir im Physikunterricht, und der eigene Körper stellt hier leider keine Ausnahme dar. Hinzu kommt eine unbestimmte, psychische Anstrengung, denn irgendwie muss der Mensch all die neuen Sinneseindrücke verarbeiten. Wer sich das nicht mehr gewohnt ist – jemand, der aus gesundheitlichen Gründen an einen Ort gebunden ist, beispielsweise – kann auf Reisen eine regelrecht Reizüberflutung erfahren. Die hungrigen Sinne, die auf einer Reise urplötzlich ein solches Übermass an Nahrung erhalten, können den Reisenden in einen übermütigen, geradezu rauschartigen Zustand versetzen. Beim Reisen gibt es keine sanften Übergänge, auch keine lauwarmen Gefühle. Das macht es zu einem solch unberechenbaren Unternehmen. Es gibt das An-Ort-Treten, und es gibt das Unterwegssein. Und es gibt einen schmalen Streifen Übergang: den Flughafen.

Der Flughafen ist eine Schatzkammer an Gefühlen und Emotionen. Menschliche Freudenmomente und Tragödien ereignen sich auf engstem Raum. Am Flughafen befindet sich statistisch gesehen eine überdurchschnittlich hohe Zahl an Menschen in einer Ausnahmesituation; einem Krankenhaus nicht unähnlich. Doch im Unterschied zum Krankenhaus haben sich die Reisenden freiwillig in diese Situation begeben. Genau das macht das Reisen auch so «thrilling»: Die Tatsache, dass man aus freien Stücken eingewilligt hat, die Kontrolle aus der Hand zu geben. Das ist wie auf einem 10-Meter-Sprungbrett zu stehen im klaren Bewusstsein darüber, dass man sich jetzt dann gleich fallen lassen wird. Über die Massen Angst einflössend – und gleichzeitig über die Massen erregend.

Für Menschen, die das Reisen lieben, ist es körperlich genauso anstrengend wie für «Daheim-Menschen» – nur wird ihnen die Energie, die sie verlieren, an einem anderen Ort gleich wieder zugeführt. Ein passionierter Reisender erlebt es als sehr lustvoll, sich dem Strom des Lebens hinzugeben, neue Dinge zu erfahren, nicht zu wissen, was der nächste Tag, die nächste Stunde, ja was der nächste Moment bringen wird. Der Erfahrungshunger treibt ihn an. Reisen ist eine sehr vielschichtige Herausforderung, vielleicht eine der vielschichtigsten überhaupt, und passionierte Reisende erleben es als äusserst erhebend, sich ihr zu stellen. Reisen hat aber auch ein reduktionistisches Element. Eine längere Reise zu unternehmen bedeutet, für einige Wochen nichts anderes zu besitzen als ein paar Kleidungsstücke, ein Buch und die eigene Geschichte.

Dann wird Reisen zum Wunderinstrument, ähnlich einem Vergrösserungsglas. Es vermag den Fokus auf jene Dinge zu richten, die in unserem Leben gerade wirklich wichtig sind, alles andere fällt von uns ab. Unterwegs erkennen wir klarer, was Beziehungen uns bedeuten, woran es uns mangelt, was derzeit unser Bedürfnis ist und können dann «neu sortiert» nach Hause zurückkehren. Gesetzten Falles, wir lassen diese Gedanken überhaupt an uns heran. Andernfalls kann Reisen auch einfach eine intelligente Art der Zerstreuung sein. Auf jeden Fall ist Reisen – betrachtet man es vom Standpunkt einer bewussten Lebensgestaltung aus – ein ganz besonders effektvolles Stilmittel. Der Entscheid, sich auf eine längere Reise zu begeben, hat nicht selten direkt etwas mit unseren Lebensumständen zu tun. Wir reisen in Übergangsphasen. Vor dem Beginn eines Studiums, vor Antritt einer neuen Stelle, vor der Geburt des ersten Kindes. Jede Reise hat ihren Grund, ihre innere Logik. Junge Erwachsene begeben sich gerne auf eine längere Reise, um die Bindung zum Elternhaus zu kappen, wir reisen aus Gründen der spirituellen Selbsterfahrung, ja manchmal kommt Reisen sogar einer Flucht gleich, um sich aus alten Mustern zu befreien. Wenn wir aufbrechen, verändert sich der Rhythmus unseres Lebens, aus Kontrollverlust wird Tempogewinn, die unendliche Anzahl an Möglichkeiten lockt, hinzu kommt intensives Erleben, weil wir jegliche Sicherheiten hinter uns lassen. «Wer will schon ein durch Sicherheiten eingeengtes Leben?», fragt sich Amelia Earhart, US-amerikanische Flugpionierin. Und Francesca Marciano sagte einst: «Sich in Gefahr zu begeben heisst, sich bis ins Innerste berühren zu lassen.»

Niemand kommt als der gleiche Mensch von einer Reise zurück, als der er aufgebrochen ist. Fast immer bedeutet Reisen das Aufbrechen von alten Mustern, was im Wort Auf-Bruch eigentlich bereits verborgen liegt. Wenn innerlich etwas aufbricht, kann das sehr schmerzhaft sein. Daher sollte es eigentlich nicht erstaunen, dass es immer wieder Menschen gibt, die auf einer Reise ernsthaft psychisch erkranken. Dafür gibt es unzählige Beispiele aus der Vergangenheit. Albert Camus, Annemarie Schwarzenbach oder Nicolas Bouvier sind berühmte Reisende, die in der Fremde eine schwere Krise durchleben mussten. Eine Reise, zum Beispiel eine Pilgerreise, kann mit einem Heilsversprechen locken und es manchmal sogar erfüllen. Doch leider kann auch das Umgekehrte passieren und jemand verliert durch eine Reise völlig den Boden unter den Füssen. An seinen Polen – ob positiv oder negativ - ist Reisen immer eine Grenzerfahrung. Die Frage ist nur noch, in welche Richtung das Pendel ausschlagen wird. Reisen ist ein grosses Wagnis, der gestiegene Komfort von heute hat daran nichts geändert. Obwohl die Rückkehr in der heutigen Zeit – anders als früher – als selbstverständlich angesehen wird und bereits im Element der Abreise angelegt ist, hat eine Reise dennoch immer etwas Endgültiges. Abschied bedeutet Verlust. Jede Reise enthält die Erfahrung des Verlustes und schafft gleichzeitig Platz für Neues. Die äussere Befreiung, für die man sich entscheidet, zieht nicht selten eine innere Befreiung nach sich. Und am Ende steht die Befriedigung, das Abenteuer einer Reise bestanden zu haben. Das macht stolz. Und mutig. Und Lust auf mehr. Gegen das Reisen gibt es, ähnlich wie beim Küssen, ganz einfach nichts einzuwenden.

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Chalid al-Chamissi
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