Labour of love

In der Gepäckhalle hatte ich letzte Woche eine rührende Begegnung mit einem älteren Herrrn. Noch tagelang hat mich die Erinnerung an ihn begleitet. Er mühte sich gerade in der Zollhalle mit einem sperrigen Gepäckstück ab, als ich zu ihm hineilte und ihm dabei half, seinen schweren Reisekoffer auf eines der Gepäckwägelchen zu hieven. Noch etwas ausser Atem, aber sichtlich gerührt, begann er zu erzählen: Als Gastarbeiter jung von Italien in die Schweiz gekommen, sei er vierzig Jahre lang für jene Firma tätig gewesen, die bis heute die Gepäcktrolleys für Flughäfen und Bahnhöfe entwickelt und produziert. Plötzlich bekamen die schwer steuerbaren Ungetüme, die die wuchtigen Gepäckwagen in meinen Augen bisher gewesen waren, ein ganz anderes Gesicht. Sein liebevoller Blick hauchte ihnen Leben ein. Ich stellte mir vor, wie er in einer grossen, schlecht beleuchteten Fabrikhalle in einem tintenblauen Arbeiter-Overall tagein, tagaus, Metallteile ausgestanzt und zusammengeschweisst hat. In der Pause schob er sich die Schweisserbrille auf die Stirn und wickelte das Fleischkäse-Sandwich aus der Alufolie, das seine Frau morgens liebevoll für ihn vorbereitet hatte, oder er genehmigte sich ein Rad eines aus Italien mitgebrachten, selbstgeräucherten Salamis. Vielleicht wechselte er auch ein paar scherzende Worte mit dem Arbeitskollegen aus dem Heimatland oder inhalierte rasch eine rote Marlboro, nur um sich dann wieder seiner Arbeit zuzuwenden. Acht Stunden täglich, sechs Tage die Woche. Labour of love.

Heute verwenden junge Menschen sehr viel Energie darauf, herauszufinden, welcher Arbeit sie ihr Leben widmen möchten. Und das nicht ohne Grund. Wir identifizieren uns mit unserer Arbeit wie mit nichts Vergleichbarem. Indem wir arbeiten, hören wir auf zu WERDEN und fangen an zu SEIN. Arbeit ist weit mehr als blosses Geldverdienen. Arbeit schenkt uns Identifikation. Dabei spielt es keine Rolle, ob man als Arzt Menschenleben rettet, in der Strassenbahn Fahrkarten kontrolliert oder von Haus zu Haus geht und Staubsauger verkauft. Wichtig ist, dass unsere Arbeit etwas mit uns zu tun hat, dass sie einen Resonanzboden bildet. Im besten Falle schafft Arbeit einen Raum, in dem wir uns entfalten können.

Mein alter Mann wird die Gepäckwagen nie mehr nüchtern als das betrachten können, was sie eigentlich sind: metallene Gefährte auf Rollen. Die Beziehung, die wir zu unserer Arbeit eingehen, verändert unseren Blickwinkel auf die Welt für immer. Wir sind heute in der glücklichen Lage, dass wir die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, womit wir uns beschäftigen möchten. Mein Gastarbeiter hatte diese Freiheit kaum. Es war purer Zufall, dass er ausgerechnet in der Metallindustrie und darin in der Produktion von Gepäcktrolleys tätig war. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, die Gepäcktrolleys zu «seinen» zu machen und vierzig seiner kostbaren Jahre in diese eine Sache zu investieren. Ein guter Arbeiter vereint Tugenden wie Pflichtgefühl, Treue und Disziplin auf sich. Im Austausch gegen Lohn stellt er seiner Firma weit mehr als nur seine Arbeitskraft und sein Know-How zur Verfügung. Er gibt ihr auch etwas, das sich nicht mit Vorschriften einfordern lässt: Ein Stück seiner eigenen Menschlichkeit.

Diese Vereinnahmung durch Arbeit kann im schlechtesten Fall soweit führen, dass Menschen im Hamsterrad der Lohnarbeit abstumpfen. Die Begründer der «New Work»-Bewegung des amerikanischen Sozialphilosophen Frithjof Bergmann will Menschen dazu inspirieren, der Frage nachzugehen, welche Arbeit sie wirklich wirklich tun möchten. Bergmann spricht in seinem Grundlagenwerk «Neue Arbeit, neue Kultur» davon, dass eine Arbeit ein unglaublicher «Zug» entwickeln kann. Arbeit, welche die Menschen fasziniere und mitreisse, Arbeit, die sie liebten und der sie sich hingeben könnten, entfessle mehr Kräfte in den Menschen, als sie zu besitzen glaubten. Bergmann: «Wir werden Teil einer grösseren Situation, und diese Situation bringt unerkannte Energien in uns zum Vorschein.» (Bergmann, S.14). Arbeit sollte uns so viel Spass machen, dass wir ihr restlos verfallen können. Von der Leidenschaft, die die Arbeit in einem entfesseln kann, schreibt auch der Philosoph Peter Bieri: «Nichts schafft so intensive Gegenwart wie eine Leidenschaft. Leidenschaft – das ist eine Organisation der inneren Zeit, welche diese Zeit in besonderer Zeit zu meiner Zeit macht. Sie schafft, könnte man sagen, angeeignete Zeit.» (Bieri, S. 426)

Letztendlich geht es also darum, dass jemand lebt und nicht gelebt wird. Das soll auch der Gesellschaft als Gesamtes einen Nutzen bringen. Die «New Work»-Bewegung hat die Vision eine Gesellschaft, in der die Menschen zu einem Drittel ihrer Zeit einer regelmässigen Erwerbsarbeit nachgehen, zu einem Drittel Selbstversorger sind und zu einem Drittel das tun, was sie wirklich wirklich wollen. Die Menschen sollten so erfüllter und mit mehr Vitalität und Freude durchs Leben gehen und sich dadurch stärker, fröhlicher und lebensvoller fühlen. Letztendlich geht es um nichts Geringeres als darum, sich selbst und damit die ganze Gesellschaft als lebensfähiger und zufriedener zu erleben. Selbst- und nicht fremdbestimmt zu sein. Denn: Wer Respekt hat für seine Arbeit, hat auch Respekt für sich selbst.

Auch nachdem ihr Erschaffer gegangen ist, stehen die Gepäckwagen noch da, aufgereiht wie diensteifrige Soldaten, und warten auf ihre Pflichterfüllung. Sie sind aus robustem Metall gefertigt, viel robuster als Einkaufwagen in Supermärkten, und strahlen den Nimbus der Unzerstörbarkeit aus. Der alte Mann ist mit gutem Recht stolz auf eine Fabrikation, die ihren Zweck noch heute erfüllt. Offenbar hat man bisher noch keinen Grund gesehen, die Gepäckwagen durch zeitgemässere Modelle zu ersetzen. Wer weiss, wie viele Abermillionen Reisende bereits Berge von Gepäck auf ihnen transportiert haben, und dennoch existieren sie einfach weiter. Das, was der Mann mit seinen eigenen Händen erschaffen hat, erfüllt heute noch seinen Zweck, obwohl er selbst längst aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden ist. Es scheint, als hätte er der Nachwelt etwas hinterlassen, das Bestand hat für die Ewigkeit. Ich frage mich, ob in uns allen die heimliche Sehnsucht verborgen liegt, der Welt etwas zu hinterlassen, das über unseren Tod hinausführt. Etwas, das wirklich von uns kommt. Das einzige, das wir tun müssen, ist dem enormen Potential von guter Arbeit zu vertrauen. Arbeit, der man sein ganzes Leben widmen kann, die einem belebt und von innen her erneuert. Das wird weite Kreise ziehen. Weiter, als wir heute jemals denken könnten.


Quellen:

Bergmann Frithjof: Neue Arbeit, neue Kultur
Bieri, Peter: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. Hanser

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