Bettlaken - blütenweiss

«It's just a silly love song», scheppert es aus den Radioboxen auf dem Eisschrank. «Nur ein dummer kleiner Liebessong, was für eine zynische Aussage», denke ich, während ich mit der Glacézange energisch die letzten Reste Zitroneneis aus dem Behälter kratze, eine ziemlich schweisstreibende Arbeit. Wann ist die Liebe etwas für Zyniker geworden? Und: Gibt es da draussen eigentlich noch irgendjemand, der an die alles verzehrende, unvernünftige, grenzenlose Liebe glaubt? Da fällt mir Mrs Doubtfire ein, was mich gleich viel versöhnlicher stimmt. Mrs Doubtfire heisst natürlich nicht wirklich Mrs Doubtfire, das ist nur mein Spitzname für sie, und mit ihrer üppigen Statur, dem vollen Busen, dem weissen Haarbausch und den schmalen, rot geschminkten Lippen sieht sie der schrulligen Nanny aus der gleichnamigen Komödie verblüffend ähnlich. Mrs Doubtfire ist Engländerin, eine typische noch dazu. Ich könnte schwören, dass sie tagtäglich um fünf Uhr nachmittags an ihrer geblümten Teeservicetasse nippt und dabei wohlig seufzt: «Es geht einfach nichts über eine gute Tasse heissen Schwarztee!»

Mrs Doubtfire ist um die sechzig und kommt ungefähr einmal im Monat nach Zürich. Abgeholt wird sie immer von einem stattlichen, gut gekleideten Herrn in ihrem Alter. Ihr Bruder? Ihr Mann? Ihr Geliebter? Jedes Mal, wenn ich die beiden dabei beobachte, wie sie an meinem Stand vorbeischlendern, fällt mir der Schalk auf, der ihre Umgangsformen prägt. Wie stark gründen ihre Dialoge auf diesem unverwechselbaren Witz und der Schlagfertigkeit, die dem englischen Humor so eigen sind. Die grösste erogene Zone – das muss man diesen zwei liebenswerten Menschen nicht mehr beibringen – ist immer noch der Kopf.

Wie die beiden zueinander stehen, war lange ein Rätsel für mich. Ein Geheimnis, das sich letzte Woche gelüftet hat, als Mrs Doubtfire ganz überraschend an meinem Stand auftaucht und sich in einen Korbstuhl fallen lässt. Entschuldigend meint sie, ihr Abholer würde sich ausnahmsweise verspäten und langes Stehen wäre ihr aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich. Und während ich ihr meine Basilikum-Eiscreme mit Basilikum aus dem eigenen Garten zum Versuchen gebe, verrät sie mir andeutungsweise den Grund für ihre häufigen Besuche: «Ich bin sehr dankbar, dass ich James kennen gelernt habe.» Sie würden sich sehen, sooft es eben ginge, ausserdem würden sie häufig miteinander telefonieren. Sofort tauchen Bilder von langen, leidenschaftlichen Telefongesprächen zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten vor meinem inneren Auge auf. Dieses Mal sei sie für vier Tage gekommen, James habe ein Auto gemietet und wenn das Wetter mitspiele, würden sie Ausflüge in die nähere Umgebung unternehmen. Aber verheiratet, nein verheiratet wären sie nicht. «Eine romantische Liebesreise», denke ich und male mir eine Frühstückspension zwischen Lavendelfeldern aus, wo zwei Liebende nach einer leidenschaftlichen Liebesnacht bei Sonnenaufgang eine Tasse Kaffee trinken. Mrs Doubtfires Stimme reisst mich aus meinen Tagträumen: «Er hat sein Leben hier, ich habe mein Leben in England, ändern möchten wir das nicht».

Ich sinniere noch über ihre Worte nach, als meine Gedanken unterbrochen werden. Ein älterer, vornehmer Herr im guten Anzug nähert sich meinem Stand. Mrs Doubtfires Wangen werden rosig: «Da ist er ja, mein grossgewachsener, gutaussehender Mann!» Und dann lachen wir, es ist ein Verschwörerlachen, ein wissendes Lachen, ein Lachen von Frau zu Frau. «Mam, darf ich sie entführen», sagt James und hält Mrs Doubtfire den Arm hin. Sie hakt sich bei ihm unter und gemeinsam spazieren sie davon, während sie sich unterhalten, mit dieser typischen wohlerzogenen, zurückhaltenden Höflichkeit. «Diese Generation von Engländern ist wirklich noch so», denke ich, während ich ihnen nachschaue. Sofort bin ich bereit, der Liebe nochmals eine Chance zu geben. I am trapped. Ich bin ein hoffnungsloser Fall.

Allein bin ich mit dieser Liebessehnsucht allerdings bei weitem nicht. Genau genommen gründen ganze Industrien darauf. Seit einigen Jahren gesellen sich zur Hollywood-DVD-Sammlung im Büchergestell auch hier im Westen zusehends mehr Bollywood-Filme. Die Inder produzieren über 700 Filme pro Jahr und haben damit eine der grössten Filmindustrien der Welt, grösser noch als die Traumfabrik Hollywoods. Der indische Schriftsteller Kiran Nagarkar dazu: «Bollywood beeinflusst in Indien jeden Lebensaspekt auf ganz ungeahnte Art und Weise.» In Indien hat man für Angelina und Brad nur ein müdes Lächeln übrig. Die Inder haben ihre eigenen Stars, und ja, die Schönheit dieser Menschen, insbesondere die der Frauen, ist von ganz anderer Qualität, hat etwas Tiefes und Geheimnisvolles und nichts Dümmliches wie im Westen. Bollywood, das ist die Art von Kino, bei der man in der Pause ekstatisch seufzt: «Ja, gebt mir mehr!» Es ist ein Schmachten, ein sich-fallen-lassen, es ist pure Hingabe. Ein ständiges Wechselbad der Gefühle. Pure, unverblümte Leidenschaft.

Würde in unser aller Leben nicht eigentlich viel mehr Leidenschaft gehören? Warum spannen wir den Schirm auf wenn es regnet, anstatt im Sommerregen zu tanzen, warum nehmen wir die Zahnbürste mit, wenn wir auswärts übernachten, warum haben wir noch immer den gleichen Job, obwohl er uns seit Jahren langweilt? Das Leben ist so kostbar. Machen wir etwas draus! Verbringen wir mehr Zeit mit Leben und weniger auf «facebook», küssen wir endlich den Mann, den wir schon lange begehren, tanzen wir in der Küche, wo uns die Nachbarn sehen können, machen wir jobmässig endlich das, was wir wirklich wirklich wollen, springen wir dem Teufel vom Karren, ja sind wir endlich wieder einmal leidenschaftlich! Das Leben hat keine Öffnungszeiten und der Schleudersitz ist unser bevorzugter Platz. Ergreifen wir die Chance, wachen wir endlich auf, wagen wir, verzeihen wir, singen wir laut im Frühlingsregen und schreien ja! Ja! Ja! in die Frühlingsnacht hinaus.

Das Bollywood-Kino malt die ganz grossen Gefühle an die Wand, es ist überschwänglich und im wahrsten Sinne des Wortes unersättlich. Übertrieben, sagen wir im Westen. Kitschig. Bollywood-Fans werden verächtlich als hoffnungslose Romantiker abgetan. Doch warum, frage ich mich, wird Romantik so geringschätzig betrachtet? Vielleicht weil sie etwas Naives an sich hat. Und niemand möchte in der Welt, in der wir heute leben, als naiv angesehen werden. Natürlich erfüllen solche Filme auch einen Zweck. Wir erwarten von ihnen, dass sie uns in eine andere Welt versetzen, einer Realitätsflucht gleich. Aber könnten sie uns nicht auch als Inspiration dienen? Könnten sie für uns nicht Anstoss sein, mehr auszubrechen, ein Leben zu führen mit blütenweissen Bettlaken wie im Film? Ich glaube, wir alle könnten leidenschaftlicher sein, wenn wir es denn nur wollten. Visionen müssen sich nicht eins zu eins manifestieren, wie wir sie uns erträumt haben. Sie weisen uns nur den Weg. Romantische Filme geben uns die Richtung vor, sie sind wie Sterne, an denen wir uns orientieren können. Doch Sattheit ist leider schwer in Bewegung zu bringen. Viel zu oft verpassen wir die Gelegenheit um verrückt, unvernünftig und ein bisschen wild zu sein.

Ich muss noch eine Weile über die «Besuchsehe» nachdenken, von der Mrs Doubtfire gesprochen hat. Ein Modell, das grössten Reiz auf mich ausübt. Schliesslich ist die Vorfreude in der ersten Zeit des Verliebtseins elementar, dieses fiebrige Element, das uns so lebendig macht. Und in einer Besuchsehe geht es nie verloren, die Leidenschaft erkaltet nie, die weissen Bettlaken haben nie ausgedient, müssen niemals der Bico-Matratze und dem atmungsaktiven Gänsefedernduvet weichen.«Mrs Doubtfire hat sich einen lover genommen!», denke ich, und ein schelmisches Grinsen überzieht mein Gesicht. Wie anrüchig und frivol, wie leidenschaftlich! Sollten wir uns von der Liebe nicht vor allem dann fürchten, wenn sie ihren gewohnten Gang nimmt, wenn das Gegenüber plötzlich allzu selbstverständlich wird, wenn das eigene Liebesleben plötzlich allzu «prosaisch» wird, also «frei von romantischen Gefühlswerten?» Die «neue Sachlichkeit» ist eine Stilrichtung, die in der Kunstwelt ihre Berechtigung hat. Für unser Leben ist sie denkbar ungeeignet. «Mehr blütenweisse Bettlaken!», ist die Parole, die es auszugeben gilt. Wir alle sind die Regisseure des Films, der unser Leben bedeutet. Deshalb können auch nur wir ganz allein dem Drehbuch mehr «masala» beimischen.

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