Das Goldschmiedmädchen

Den Sommer am Flughafen zu verbringen ist seltsam: Zuerst schwärmen die Menschen scharenweise aus, angefüllt mit Enthusiasmus und Entdeckerfreude zieht es sie in die Welt hinaus, und kaum sind sie weg, setzt bereits wieder der Rückreiseverkehr ein. Die Zahl allein reisender Kinder ist während dieser Zeit besonders hoch. Sie werden vom Bodenpersonal an der Flugzeugtüre abgeholt und zu den ungeduldig wartenden Eltern in die Ankunftshalle gebracht. Manche Kinder sind ruhig und eingeschüchtert, andere plappern drauflos; doch eines ist allen gemeinsam: Sie lieben Eiscrème. Wenn die Betreuerin oder der Betreuer einen besonders guten Tag hat, dürfen die Kinder bei mir eine Kugel Eiscrème kaufen. Salome, ein blondes, braungebranntes Mädchen mit einem sommerspossigen Gesicht, hat sich für Erdbeereis entschieden. Die 10-Jährige Salome hat die langen Ferien auf Korfu verbracht. Ihre Eltern sind geschieden, ihr Vater hat sich auf der griechischen Ferieninsel niedergelassen, wo er als Gold- und Silberschmied arbeitet. Der Goldschmied-Papa unter der Sonne der Ägäis... was für ein Sinn für Ästhetik diesem Mädchen bereits mit auf den Weg gegeben wird! Sie habe auch schon selber ein Schmuckstück anfertigen dürfen, erzählt sie stolz und streckt mir zum Beweis ihre Hand hin, an dessen Ringfinger ein einfacher Silberring steckt.

Bei näherer Betrachtung ist es nicht erstaunlich, dass ich Gold und einen sonnenhellen Ort ganz intuitiv als passend empfinde. Der Glaube an Gold war kulturgeschichtlich gesehen zunächst der Glaube an die Sonne. Typische Goldregionen sind Schwarzafrika, Indien oder Thailand. Silber hingegen ist das meist verwendete Schmuckmaterial des gesamten Maghrebgebietes und überhaupt der islamischen Welt. «Häufig waren Münzen das Ausgangsmaterial», belehrt mich Salome. Doch eigentlich gibt es kaum ein Werkstoff oder ein Material, das nicht irgendwo auf der Welt von Menschen zu Schmuck verarbeitet worden ist. (Klever, S. 31) Pflanzen sind das ursprünglichste Schmuckmaterial, und ich muss an die Kronen aus Gänseblümchen denken, mit denen wir uns als Kinder gegenseitig gekrönt hatten. Naturvölker verwenden oftmals Vogelfedern oder Muscheln, um sich zu schmücken. Die Menschen der Hochkulturen jedoch betrachten eher Edelmetalle und Edelsteine als die wichtigsten Schmuckrohstoffe.

Schmuck ist gesellschaftliche Kommunikation. Er verschönert den Träger nicht nur, sondern sagt etwas über ihn aus, insbesondere über dessen Stellung in der Gemeinschaft. Je üppiger sich ein Stammesmitglied schmückt, desto weniger muss der Trägerin oder der Träger in der Regel arbeiten. Die Übergänge vom Ästhetischen zum Magischen sind fliessend. «Wer sich eine durchlochte Muschel um den Hals hängt oder eine Feder ins Haar steckt, kann sich damit zugleich schöner und stärker machen.» (Klever, S. 9) Gerade bei Naturvölkern haben viele Schmuckstücke Amulettcharakter. Sie beschützen den Träger vor bösen Geistern; eigentlich sind sie Ausdruck für ein Gebet. (Klever, S. 16)

Salome überrascht mich erneut, als sie plötzlich eine filigran verzierte Schmuckschatulle anfasst, die an einem Lederband um ihren Hals baumelt. «Eigentlich bräuchte ich die jetzt nicht mehr. Ich bin ja fast daheim.» Meine Neugierde ist grösser als meine Höflichkeit und ich bitte sie, mir den Inhalt der Büchse zu zeigen. Vorsichtig öffnet sie die Schatulle, und ein kleiner ovaler Türkisstein kommt zum Vorschein. «Der Türkis, der Stein der Himalayaländer, ist Buddah geweiht. Er ist einer der ältesten Schmucksteine der Welt», doziert Salome und ich versuche zu begreifen, dass dieses 10-jährige Mädchen gerade das Wort «Buddha» in den Mund genommen hat. «Mein Vater ist auf Türkisschmuck spezialisiert», sagt sie leichthin. «Und die Schatulle?», frage ich ungläubig. «Das ist eine Amulettbüchse. Darin befindet sich eigentlich eine Art magischer Schutzbrief, ein Papierstück mit religiösen Inschriften. Kein Tibeter oder Ladakhi würde ohne eine oder mehrere Amulettbüchsen auf eine Reise gehen.» Ich bin erst mal platt und stammle : «Und die trägst du immer um deinen Hals, wenn du reist?» Salome zuckt mit den Achseln. «Nein, eigentlich nicht. Aber mein Papa hat sie mir mitgegeben. Wahrscheinlich stand sie zu lange im Laden herum.»

Salomes überwältigendes Wissen auf dem Gebiet des Schmucks ist etwas irritierend, und trotzdem gefällt mir, was sie von der alten Tradition der Tibeter erzählt hat. Viele Leute leiden unter Reisepanik. Sie sehen sich plötzlich auftretenden Urängsten ausgeliefert, kurz bevor sie eine Reise antreten. Etwas in ihnen sträubt sich mit aller Kraft gegen die bevorstehende Reise. Meine Mutter reist fürs Leben gerne, aber jedes Mal beschwört sie mich kurz vorher, sie diese Reise unter keinen Umständen antreten zu lassen. Eine Amulettbüchse würde einer von Reisepanik befallenen Person ein Gefühl der Sicherheit und Stärke vermitteln. «Warst du denn schon einmal in Tibet oder Ladakh?», frage ich Salome. Mittlerweile würde mich bei diesem Mädchen nichts mehr überraschen. «Nein, natürlich nicht. Dafür bin ich doch noch viel zu klein. Aber Papa hat mir viel davon erzählt. Weisst du, was in der Mongolei oder Tibet sehr teuer ist?» Ich verneine kopfschüttelnd. «Korallen, weil das Meer so weit weg ist und sie auf langen Wegen über das Gebirge gebracht werden müssen. Und ich habe auf Korfu beim Schnorcheln mit meiner Freundin Anita fast jeden Tag Korallen gesehen!»

Ich denke über die Bedeutung von Schmuck in unserer heutigen Zeit nach. «Schmuck» kommt von «schmücken». Wir schmücken uns, um zu gefallen. Das hat sich über Jahrhunderte hinweg nicht verändert. Im Unterschied zu den Naturvölkern schmücken wir uns jedoch kaum, um uns vor bösen Geistern zu schützen. Trotzdem kann das Tragen eines Schmuckstücks noch heute einem Gebet gleichkommen. Schliesslich tauschen Mann und Frau nach wie vor Ringe, wenn sie sich die ewige Treue schwören. Es gibt Familienringe oder Siegelringe, die Zugehörigkeit zu einer bestimmen Gruppe oder Gemeinschaft ausdrücken. Junge Männer oder Frauen bekommen zur Konfirmation oder Firmung eine Uhr geschenkt. Ja sogar kleinen Kindern werden bereits Bernsteinketten umgehängt, weil das angeblich gegen die Schmerzen hilft, die auftreten, wenn sie die ersten Zähne bekommen. Jedem grossen Moment in unserem Leben wird mit einem besonderen Schmuckstück zusätzliche, weihevolle Bedeutung verliehen, wobei auch die Beständigkeit von Edelmetallen eine grosse Rolle spielt. Schmuckstücke sind ein Statement, eine Art persönliches Manifest. Der Symbolcharakter ist aus dem Schmuckatelier jedenfalls nicht wegzudenken, so wenig wie aus dem Tattoo-Studio: Wir leben in einer mit Tätowierungen überschwemmten Gesellschaft, und viele der Tattoos haben für den Träger eine ganz bestimmte, sehr individuelle Bedeutung. Die Tatsache, dass Tätowierungen nur mit grossem Aufwand wieder zu entfernen sind, verstärken ihre hohe symbolische Bedeutung noch. Bei näherer Betrachtung ist unsere eigene Kultur also gar nicht so arm an Schmucktraditionen, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte.

Unter diesen Gesichtspunkten wird der Gold- oder Silberschmied zu so etwas wie einem Zauberkünstler, einem Magier oder Priester. Sein Handwerk hat sich in 3000 Jahren nur wenig geändert. Es ist genauso beständig wie das Material, mit dem er arbeitet. Auch weltweit gibt es kaum lokale Unterschiede in der Verarbeitung. Die Arbeit mit Hammer und Amboss bleibt immer dieselbe, egal ob ein Schmuckhersteller am Rande der Sahara lebt, in den Bergwäldern von Thailand, in Kabul oder Damaskus oder in den Dschungeldörfern Borneos. (vgl. Klever, S. 51) Sein Ansehen ist jedoch nicht überall so hoch wie bei uns: In Afrika wird die Berufsgattung der Schmiede manchmal missachtet, aber immer gefürchtet. Bei den Tuaregs wird nur untereinander geheiratet, Schmiede wohnen ausserhalb der Gemeinschaft. Auch bei den Massai leben die Schmiede ausserhalb der Gemeinschaft, sie gelten als unrein. (vgl. Klever, S. 51) Ich hingegen bin völlig vorurteilsfrei und seit der Begegnung mit dem Goldschmiedmädchen überzeugt davon, dass Salomes Vater das goldene Los gezogen hat: Auf einer griechischen Insel im Ionischen Meer filigran verarbeitete Schmuckstücke herzustellen, mit dem tiefblauen Meer direkt vor der Werkstatttüre und 3000 Sonnenstunden im Jahr... was für ein sinnliches, inspirierendes Leben!


Quelle: Katrin & Ulrich Klever, Exotischer Schmuck, Mosaik Verlag

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