Donnerstag, 25. Februar 2010

Kultureller Hybrid sein-werden

Jeder, der bei mir eine kurze Rast einlegt, ist auf der Durchreise. Bei mir können die Reisenden für einen kurzen Augenblick innehalten und verweilen, sich eine Atempause gestatten, um kurze Zeit später wieder aufzubrechen, an den Ort ihrer Bestimmung. Die Gründe für ihre Reisetätigkeit sind äusserst vielfältig: Manche reisen aus geschäftlichem oder familiärem Anlass, andere aus Liebe, für andere ist Neugierde und Abenteuerlust Hauptantriebskraft. Nicht wenige erhoffen sich an einem anderen Ort ein besseres Leben. Ganz besonders freut es mich da, wenn jemand eine Reise unternimmt um der Freundschaft willen. Denn gute Freunde im Ausland zu besuchen – egal wo auf der Welt – ist meiner Meinung nach der nobelste aller Gründe zu reisen.

So wie Evelin Rinderknecht, mit der ich heute Bekanntschaft gemacht habe. Ihre Freunde leben seit Jahren in Bangkok. Die Wartezeit bis zum Abflug wollte sich die ältere Dame mit einer guten Tasse Grüntee verkürzen. «Wissen sie, ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, jeden Tag eine Tasse Grüntee zu trinken», verrät sie mir und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu: «Das mache ich seit vierzig Jahren. Heute bin ich 75 Jahre alt und noch immer kerngesund.» Die Dame ist in Plauderlaune. Als ich ihr den Weg zum nächsten Restaurant mit Grüntee zeigen will, hört sie gar nicht hin und beschreibt mir stattdessen ihr gewohntes Bangkok-Programm: «Das Flugzeug setzt am Morgen in aller Frühe auf thailändischem Boden auf. Sobald ich die Einreiseformalitäten erledigt habe und meine Koffer vom Band gefischt habe, nehme ich mir ein Taxi und fahre zum Klub. Dort spiele ich für den Rest des Tages Bridge.» Ich stelle mir die alte Dame vor, wie sie in einem Salon im Kolonialstil um den Bridge-Tisch sitzt, und muss unvermittelt lächeln. Der Deckenventilator im abgedunkelten Raum dreht unermüdlich seine Runden, die tropische Hitze macht sogar die Stubenfliegen träge. Nur die lebhafte Alte in ihrem grasgrünen Kostüm und dem sorgfältig nachgezogenen Lippenstift – immerhin hat sie gerade einen zwölfstündigen Flug hinter sich – wirkt noch so taufrisch wie aus dem Modekatalog. Und mit dem Gin Tonic-Glas in der einen, und den Bridge-Karten in der anderen Hand feiert sie lautstark jeden errungenen Sieg.

Wenn dann um halb sieben die Dämmerung über die Millionenstadt hereinbricht, setzt sich die Dame wahrscheinlich in den Drawing room und gestattet sich mit ihren Freunden eine Kleinigkeit zu Essen. Aus Freude über das Wiedersehen wird wahrscheinlich eine gute Flasche Rotwein entkorkt. Im Kreise von Freunden, diese Erfahrung ist universell, schmeckt der Wein ganz besonders mundig und das Zirpen der Grillen kann leicht einen verheissungsvollen Klang annehmen. Die Stunden vergehen wie im Flug, bei so vielen Wochen des Getrenntseins hat man sich ja auch viel zu erzählen! In Nächten wie diesen, da tanzt der Geist, auch wenn es der Körper nicht mehr zulässt. Im Gespräch schwingt man sich gegenseitig zu neuen Höhen auf, lacht, tauscht Erfahrungen aus, bringt sich gegenseitig auf noch nie gedachte Gedanken. Und wenn man dann im ersten fahlen Licht des anbrechenden Tages todmüde ins Bett fällt, ist man einfach nur noch überglücklich.

Obwohl reisen immer mit Anstrengungen verbunden ist, nehmen wir den weiten Weg zu einem guten Freund mit einem Lächeln kauf. Nie ist es uns leichter gefallen, aufzubrechen. Nie haben wir weniger gezögert. Weil wir wissen, dass die Zeit, die wir mit diesem feinen Mensch verbringen werden, unschätzbar kostbar ist für uns und durch kein Geld der Welt aufzuwiegen. In der Liebe hingegen ist das anders. Liebesbeziehungen werden heute über kulturelle und geografische Grenzen hinweg eingegangen, Liebesgeständnisse reisen via E-Mail, Handy und Internet innert Hundertstelsekunden über die sieben Weltmeere. Unsere Zeiten scheinen mit den neuen Kommunikationskanälen geradezu dafür gemacht, der Liebe eine weitere Dimension zu geben. Wer sich sehnt, fühlt intensiver. Doch dieses sich-nacheinander-verzehren kann kein Dauerzustand sein, irgendwann muss es ein Ende haben, eine Paarbeziehung braucht die Perspektive, den Alltag. Man lebt von Begegnung zu Begegnung; unentwegt herrscht der Ausnahmezustand. Und liegen sich die Liebenden dann endlich in den Armen, beginnt auch schon wieder die lähmende Angst vor der Stunde des Abschieds von ihnen Besitz zu ergreifen. Es ist ein ständiger Wettlauf gegen die Zeit.

Liebe ist die Schnittmenge zweier Lebensrealitäten. Zu lieben bedeutet, sich zu bekennen. Zu einer Person. Einer Herkunft. Einer Kultur. In einer Freundschaft hingegen ist man viel freier in seiner Entscheidung, welche Elemente, die der Freund repräsentiert, sich ins eigene Leben integrieren lassen. Die ältere Dame wurde damals wahrscheinlich von ihren thailändischen Freunden ins Bridge-Spiel eingeführt. Und auch die Tatsache, dass Grüntee gesund ist und das Wachstum von Krebszellen hemmen kann, hat sie vermutlich von diesen Freunden zum ersten Mal gehört. So konnte sie diese zwei lieben Gewohnheiten in ihren Lebensalltag integrieren, ohne deswegen gleich zum Buddhismus zu konvertieren oder den thailändischen König mit blindem Eifer zu verehren. Das Trennende ist in einer Freundschaft genauso selbstverständlich wie das Gemeinsame. In einer Paarbeziehung hingegen wird das Trennende immer gleich als beziehungsgefährdend eingestuft. Es erfordert viel Hingabe und Geduld von beiden Seiten, Gräben aufzufüllen und Brücken zu errichten. In einer transkontinentalen Freundschaft hingegen kann man ganz zwanglos ein kultureller Hybrid werden.

Freunde und Ausland – meiner Meinung eine hinreissende Kombination. Auch deshalb, weil eine Freundschaft eine kulturelle Innenansicht liefert, die man in keinem Reiseführer der Welt findet. Das ist horizonterweiternd, ohne im Geringsten einzuengen. Auf eine sehr leichte, unbekümmerte Weise erhält man so einen tiefgreifenden Einblick in die Kultur des anderen, ähnlich dem Blick durch ein Kaleidoskop. Die einzelnen Muster vermischen sich ineinander und lassen so ein neues, viel komplexeres Gebilde entstehen. Verallgemeinerungen lässt man schnell hinter sich, um sich auf einer viel persönlicheren Ebene zu begegnen. Man nimmt den fremden Ort durch die Linse des Freundes wahr – und dadurch scheint er gleich nicht mehr so fremd. Wir fühlen uns dem fremden Land, der fremden Stadt plötzlich zugehörig, weil der Freund uns ein Gefühl von Heimat, von Geborgenheit geben kann. Auch die Bridge-Spielerin betrachtet Bangkok mittlerweile wahrscheinlich ein bisschen als ihre zweite Heimat. Weil sie Freunde hat in diesem Teil der Welt, ein Sicherheitsnetz. Ein emotionales Backup.

Eine metallische Stimme erklingt aus den Lautsprechern: «Frau Evelin Rinderknecht, bitte begeben Sie sich umgehend zum Ausgang E53.» Meine Bridge-Spielerin fährt zusammen. «Das bin ich!» Schnell rafft sie ihre Siebensachen zusammen. «Ihr Ausgang ist gleich dort vorne», beruhige ich sie. «Ich wünsche Ihnen eine gute Reise». Und in ihrem grasgrünen Kostüm eilt sie davon, auf ins nächste Abenteuer. Ich schaue ihr nach, wie sie im Fingerdock verschwindet, die Dame von Welt in ihrem grasgrünen Kostüm, mit ihrer Vorliebe für grünen Tee. «Manche Menschen haben einfach ein Talent für ein Leben Ton in Ton», denke ich und lächle.

The scent of the big wide world

An manchen Tagen vergeht mir die Lust, am Stand zu stehen und auf Käuferschaft zu warten. Dann will ich nicht an Ort und Stelle verharren, sondern in Bewegung sein, mit Menschen in Beziehung treten, einen Augenlidschlag lang Hansdampf in allen Gassen sein. Und so löse ich die Schnüre meiner Schürze und begebe mich auf einen Streifzug durch den Flughafen. Ich durchwandere die Sitzreihen und schaue den Passagieren in der Transithalle beim Warten zu, ich bummle durch den Duty Free, plaudere mit dem netten Sicherheitsbeamten mit den schönen blauen Augen, fahre Sky Metro oder stibitze in der Lounge ein paar Cashewnuts... der Flughafen wird zu meiner ganz persönlichen, überdimensionalen Spielwiese.

Manchmal, wenn gerade ein Langstreckenflieger angedockt hat, bleibe ich für einen Moment stehen und schaue dabei zu, wie die Gatetüren sich öffnen und die Passagiere herausströmen. Dann stelle ich mir vor, woher diese Menschen kommen und was der Grund für ihre Reise sein mag. Das ist ein besonderer Moment, denn ich weiss, dass ich der Welt, der sie gerade entschwunden sind, näher nicht mehr kommen kann – es sei denn, ich fliege selber hin. Ich befinde mich hier an der äussersten Grenze. Wenige Stunden zuvor, am Abflugsort, wurde die Kabinentür hermetisch verriegelt und hier, am Ziel der Reise, schwingt sie wieder auf und spukt Passagiere aus, die zielstrebig Richtung Ausgang strömen. Der Geruch der anderen Welt haftet ihnen noch an den Kleidern, an der Haut. In diesem Moment ist die fremde Welt für mich zum Greifen nahe, sie liegt buchstäblich in der Luft. Ich halte einen Moment inne und atme den Geruch durch meine Nasenlöcher ein – es ist der Duft der grossen weiten Welt.

Ich muss nie fragen, woher ein Flugzeug kommt. Die Duftfahne, die mir aus dem Fingerdock entgegen weht, erzählt es mir. Kommt ein Flugzeug zum Beispiel aus Indien oder der arabischen Welt, ist ein würziger Geruch vorherrschend. Er verrät mir, dass die Menschen dort an scharfes Essen gewöhnt sind. Kommt ein Flugzeug aus dem Balkan, legt sich eine rauchige Duftnote wie ein Schleier über die Köpfe der Passagiere, der mir verrät, dass die Menschen dort noch auf offenem Feuer kochen. Bei Flugzeugen, ankommend aus den Vereinigten Staaten, steigt mir ein undefinierbarer, chemischer Geruch in die Nase, der mich ein bisschen an Erdbeertörtchen erinnert. So hat jede Destination ihren ganz eigenen, unverwechselbaren Geruch.

Nachdem alle Passagiere ausgestiegen sind, geht die Crew von Bord. Engelsgleiche Gestalten, adrett uniformiert, hinterlassen eine süssliche Parfümwolke, betörend und prachtvoll, wuchtig und schwer – und übertünchen die Duftschwaden des «Destinations-Geruchs», der eben noch in der Luft gelegen ist. Düfte lösen praktisch wie auf Knopfdruck Gefühle in uns aus. Diese enge Verwandtschaft ist kein Zufall: Dufterinnerungen werden im Gehirn am selben Ort verarbeitet und abgespeichert, wo auch die Emotionen sitzen. Besonders augenfällig ist das bei Gerüchen, die eng mit Erinnerungen verknüpft sind: Der Geruch von Karamelbonbons ruft blitzartig Bilder der Grossmutter wach, der Duft der alten Ledermappe beschwört Erinnerungen an die Schulzeit herauf. Nichts ist so individuell wie unser Duftgedächtnis. Und so hat jeder von uns mit der Zeit seine ganz eigene, individuelle Duftlandkarte, die sich in seiner Seelenlandschaft festsetzt. Wir können einen Geruch selbst dann noch mit einem Gefühl verbinden, wenn bereits Jahrzehnte zurückliegen, seit wir ihn zum letzten Mal bewusst wahrgenommen haben.

«Die Nase ist eigentlich ein völlig passives Organ», hat mir Pablo gestern erzählt. «Doch mit ein bisschen Training kann sie jeder in Marathon-Form bringen.» Er muss es wissen, denn Pablo war früher gefeierter Parfumeur, bevor er sich darauf beschränkte, Parfüms nur noch zu verkaufen, statt sie selber herzustellen. An diese Unterhaltung muss ich jetzt zurückdenken, als ich an der Gatetüre stehe, lächelnd, und all die schönen Flugbegleiterinnen herausströmen sehe. Pablos Parfümstand im Duty Free Shop grenzt direkt an meinen. Ich finde, er hat den schönsten Job der Welt. Schliesslich sorgt er dafür, dass die Welt duftet – und schenkt ihr damit einen bunten Blumenstrauss voller Emotionen. Pablo hingegen ist nicht so ganz meiner Meinung. «Rosaly-Schätzchen», sagt er dann, «du bist hier diejenige, die die grossen Gefühl an die Wand malt. Schau dir das Leuchten in diesen Kinderaugen an, wenn sie mit dem Eis in der Hand deinen Stand verlassen.» Vielleicht hat er ja Recht. Pablo liebt Kinder und es fällt ihm schwer, sich mit der Tatsache abzufinden, dass es mir mit der Eiscrème so spielend gelingen will, die Kinderherzen gleich reihenweise zu erobern.

Doch Eiscrème-Expertin zu werden ist leicht. Es genügt vollauf, ein Schleckmaul zu sein. Bei Parfums ist das anders. Das Handwerk des Parfumeurs erscheint mir manchmal wie eine Geheimwissenschaft, wie das Verwandeln von Blei in Gold. Mit seiner Pipette in der Hand tüftelt der Parfumeur an seiner neusten Kreation, schraubt an Kopf-, Herz- und Basisnote herum, fügt hier ein bisschen Beere hinzu und nimmt dort eine Prise Moschus weg... Parfumeure müssen unglaublich feinfühlige Menschen sein. Die Beschäftigung mit Gerüchen muss fast zwangsläufig ihre Aufnahmefähigkeit für das Fühlen verstärken. Weltweit soll es nur 2000 Parfumeure geben. Als ich so darüber nachdenke, nehme ich mir vor, auch meine Nase auf Marathon-Form zu bringen. Vielleicht wird mir Pablo dabei helfen können? Gestern hat er ungewollt gleich selber den Anfang dafür gemacht. «Rosi, ist dir schon mal aufgefallen, dass auch japanischen Babys ganz anders riechen als unsere?», fragte er mich, nachdem er eine japanisch aussehende Kundin fertig bedient hat. Ich bin gerade damit beschäftigt, die Cornettos aufzufüllen. «Nein. Wie denn?» – «Irgendwie nach Bananen.»

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Chalid al-Chamissi
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