Betrachtungen

Donnerstag, 21. Februar 2008

Dampfkochtopf-Weisheiten

Als neue passionierte Köchin habe ich die Benutzung des Dampfkochtopfs für mich entdeckt. Der hat mich auch gleich zu einer Lebensweisheit inspiriert. Der Dampfkochtopf ist nämlich ein wundersames Ding. Lange tut er keinen Wank, er gibt nur ein paar grummelnde Geräusche von sich und lässt etwas Dampf ab. Plötzlich schiesst dann innert Sekunden das Überdruckventil mit den zwei Ringen in die Höhe, der Siedepunkt ist erreicht, die Dinge können sich selbst überlassen werden. Zehn Minuten später sitzt man vor einem Teller dampfender Gschwellti und denkt ergriffen: Schon die ganze Zeit hatte es in ihm gegart! Und dies obschon ihm das äusserlich gar nicht anzusehen war! So ist es doch auch häufig im Leben. Lange passiert nicht viel, man strengt sich an, rennt und rennt und hat das Gefühl, nie anzukommen. Doch im Innern tut sich dennoch etwas, Entscheidungen gären in einem wie in einem Dampfkochtopf. Und dann – ausgerechnet, wenn man alle Hoffnung aufgegeben hat – ist der Siedepunkt erreicht und die Dinge nehmen ihren Lauf.

English version:

In my new found life as a passionate cook, I learned about the wisdom of a pressure cooker. A pressure cooker is a miracoulos thing. For long, it doesn t move a bit, you can only hear some grumbling sounds from the inside. But then suddenly, almost like magic, the black thing with the two circles gets lifted up; the boiling point has reached. From now onwards, things can be left on their own. 10 minutes later, you sit in front of a plate of steaming potatoes, thinking deeply touched: All this time it has been cooking from the inside!
In life the same can happen too: For a long time, nothing much happens. You are whirling around in your daily routine, trying to give consideration to anything and everything. In your weakest moments you feel you have lost direction. But from the inside, something is happening, decisions are being made, unfinished affairs are being «cooked» like potatoes in a pressure cooker. And then – just when you gave up hope – the boiling point has reached and things can be left on their own.

Mittwoch, 23. Januar 2008

We are not employable!

Lesen, schreiben und ein bisschen Yoga machen: Das wäre meine Vorstellung eines guten Lebens. Damit könnte ich meine Tage bis zu des Bechers Neige auskosten. Die Tage meines Lebens, die irgendwann gezählt sein werden. It’s strange to be alive. Doch irgendwie muss der eigene Lebensunterhalt verdient werden. Ein so genannter «Denkarbeiter» zu sein hat immer nur in Ausnahmefällen wirklich etwas eingebracht. Es gibt sie zwar, die so genannten «Intellektuellen», die über die Welt nachdenken und das als ihren Beruf bezeichnen. Aber wo sind sie? Gibt es sie wirklich oder stehen sie nur immer als Akteure in der Zeitung? Und vielleicht sind sie auch so vergeistigt, dass ihre Körper auf Nahrung nicht mehr angewiesen sind. Ich hingegen möchte essen, denn ich liebe es zu essen. Und dafür muss ich Geld verdienen. Ich möchte nicht berühmt sein, aber ich möchte etwas machen, das mir wirklich am Herzen liegt.

Und jetzt bin ich hier, ohne festes Einkommen, aber nicht ohne Arbeit. Diese wird mir noch lange nicht ausgehen, Projektideen gibt es zuhauf, endlich tue ich das, war mir wirklich am Herzen liegt. Doch bezahlt werde ich dafür nicht. Mut zum Eigensinn!, steht in grossen Buchstaben auf einem Zettel in meinem Arbeitszimmer geschrieben. Und jeden Tag gilt es wieder aufs Neue, sich selbst den Puls zu nehmen und seine innere Stimmung auszuloten. Wie fühle ich mich heute? Denn während den guten Tagen, wenn ich mich «on top of the world» befinde, gratuliere ich mir zu dieser Entscheidung. Selbstermächtigung ist das magische Stichwort. Dann gratuliere ich mir zu meiner Bedingungslosigkeit und ich bin ich zufrieden mit mir und der Welt. Solche Momente sind glücklicherweise recht häufig. Doch dummerweise kommen die anderen Momente genauso häufig vor. Denn sobald ich mich auf dem Berggipfel befinde, ist das nächste schwarze Loch bereits wieder in Sichtweite. Dann frage ich mich: Was mache ich überhaupt hier? Was bringt das eigentlich? Sobald eine Sinnkrise erfolgreich überstanden ist, kommt bereits die nächste in Sichtweite.

Die schwarzen Abgründe wird es immer geben, das weiss ich genau. Man kann einzig ein Gegenmittel erfinden. Als «gedankliche Medizin» versuche ich in letzter Zeit häufig, an zwei meiner indischen Freunde zu denken. Der eine ist selbständiger Buchhalter, der andere freischaffender Journalist. Die beiden treffen sich jeden Mittwochnachmittag in einer Bar mitten im chaotischen Strassengewirr Delhis. Und einmal haben sie mich mitgenommen. Wir haben Biere gebechert und Lebensphilosophien ausgetauscht. Beide haben einst beim gleichen internationalen Grossunternehmen gearbeitet, und beide waren erfolgreich auf ihrem Gebiet. Doch irgendwann haben sie sich entschieden, selbständig zu werden, hinaus in die Ungewissheit. Diese zwei Menschen sind mir ein grosses Vorbild. Denn mit einer heiteren Gelassenheit wissen sie ganz genau, worauf sie verzichten –Karriere, Geld – aber auch, was sie dadurch gewonnen haben. Nämlich mehr Zeit und mehr Lebensqualität. Mehr Selbstbestimmung über das eigene Leben, letztlich. Ein Leben in der eigenen Handschrift.

Donnerstag, 17. Januar 2008

Auszug aus 32 Dinge, die Sie in Ihrem Leben unbedingt noch tun sollten

1. Einen Baum pflanzen (weil er Sie überleben wird).
2. Eine Nacht unter freiem Himmel verbringen
3. Einen halben Monatslohn an eine wohltätige Organisation spenden und niemandem davon erzhählen.
4. Eine Nacht durchtanzen
5. Eine Patenschaft übernehmen
6. In einer Kirche eine Kerze stiften aus Dank für die Eltern, dass sie einem das Leben geschenkt haben.
7. Die Geschichte der eigenen grossen Liebe aufschreiben
8. Eine Woche fasten
9. Einen Tag in totalem Schweigen verbringen
10. Nachts in einem See schwimmen
11. Ein Gedicht oder einen Liedtext auswendig lernen

Dienstag, 15. Januar 2008

«Peterli» – das verkannte Kraut

Die Petersilie, in Schweizerdeutsch ein bisschen bellend «Peterli» genannt, findet sich auf jedem Teller zwischen Schaffhausen und Bellinzona als Garnitur. «Peterli» ist etwas Urschweizerisches, repräsentativ für die gesamte Hausmannskost. Auf dem Schnitzel, das es zusammen mit Pommes gibt – im Volksmund auch «Schnipo» genannt – darf die Petersilie niemals fehlen. Der grasgrüne Stängel soll als Verzierung dienen, dabei spricht er unser Auge eigentlich überhaupt nicht an. Er ist uns nur lästig. Mit rümpfender Nase schieben wir ihn an den Tellerrand und dort bleibt er dann liegen, bis der Teller wieder abgeräumt wird. Essen? Essen würden wir dieses Unkraut niemals. Ein Fehler, wie ich von meinen Freunden erfahren musste. Denn die unerotische Petersilie hat tatsächlich eine aphroditisierende Wirkung. Ich war regelrecht geschockt, als meine klugen Freunde mich darüber aufklärten. Ausgerechnet Peterli! Chilli – kann ich mir lebhaft vorstellen, auch Nelken oder Senf regen meine Fantasie an, Schokolade oder Kaffee sowieso… aber Peterli? Dieses neue Wissen verändert meine Einstellung gegenüber der Hausmannskost auf geradezu radikale Weise. Ist ihre anregende Wirkung etwa der eigentliche Grund, warum die Petersilie in jeder Gaststätte zur Grundausstattung gehört? Ist Provinz gar nicht Provinz, sondern Stätte aufgeklärten Weltwissens? Und: Muss ich der Petersilie jetzt tatsächlich eine Chance geben? Zumindest in dieser Hinsicht konnte mir eine kleine Recherche im World Wide Web Genugtuung verschaffen. Denn während Zimt und Ingwer die Durchblutung verstärken, wirken Sellerie und Petersilie vor allem auf die männlichen Harnwege, was auch die Geschlechtsorgane reizt. Petersilie ist etwas für Männer. Puh. Zum Glück.

Veröffentlicht im "Stadtanzeiger" vom 15. Januar 2008

Donnerstag, 15. November 2007

Der Brautschau-Bonus

Die Natur scheint manchmal rästelhaft. So ist mir doch kürzlich zu Ohren gekommen, dass das Männchen in der Tierwelt deshalb viel reizender aussieht, weil es letztlich das Weibchen ist, das die Hoheit über jegliche Fortpflanzungsentscheide inne hat. Die Natur hat das Männchen – zum Beispiel den Erpel in der Entenwelt – also völlig zu Recht mit allen erdenklichen Vorzügen ausgestattet. Schliesslich muss der Erpel im harten Wettbewerb um die Gunst des Entenweibchens bestehen können. Soweit, so gut. Übertragen wir diese kleine Gedankenspielerei nun auf die Gattung Mensch, beschleicht mich eine böse Ahnung: Ein Pfusch der Natur ist entlarvt, niemand wollte doch ernsthaft behaupten, dass der männliche Teil der Welt in irgendeiner Weise besser aussieht als der weibliche. Schöne Frauen sind einfach zahlreicher vertreten auf dieser Welt. Nur schon der weibliche Körper gibt ästhetisch einfach mehr her, das wird kaum jemand bestreiten. Fauen haben also das grosse Los gezogen. Ihnen gibt die Natur die Vorzüge, und in der Werbung ist auffallen bekanntlich die halbe Miete. Männer auf Brautschau hingegen müssen viel kreativer sein, die Natur will es so. Zugegeben keine leichte Aufgabe, die schnell zu akuter Überforderung führen kann. Neidvoll starren diese Männer dann hemmungslos auf die weiblichen Vorzüge in der oberen Körperhälfte und fragen sich, warum nicht ihnen der Brautschau-Bonus zukommen kann. Er würde so vieles ungemein erleichtern! Und dabei kommen sie nicht aus dem Starren hinaus. Es starrt und starrt. Dabei vergessen sie, dass der Mann völlig zu Recht nicht mit den buntesten Federn ausgestattet ist. Die Natur gibt damit ihrer Hoffnung Ausdruck, dass ein Mann theoretisch das Potential hat, sich selbst zu kultivieren. Ein Erpel hingegen – ja ein Erpel wird immer ein Erpel bleiben.

7. November 2007

Dienstag, 2. Oktober 2007

Chicorée ist ein Salat!

Sie sind zurzeit überall und gehen mir mit ihrer Dauer-Präsenz auf den Wecker: Die schwarzen Umhängetaschen mit dem hellgrünen Schriftzug eines Modehauses: «Chicorée». Chicorée ist doch ein Salat?? Etwa die Hälfte der Winterthurer Bevölkerung scheint im Moment dazu beizutragen, diese Verlinkung in unseren Köpfen zu vernichten. Nein, Chicorée ist ein Modehaus! Beim Einkauf werden die Tragbeutel dem Kunden gratis mitgegeben. «Praktisch», denken wir, und werden alle zu Werbeträgern ohne Absicht. Abgesehen davon, dass solche marketingtechnischen Grossoffensiven nervtötend sind und die schwarzen Beutel irgendwann zu verhassten Objekten werden, bekommt so ein Massenphänomen irgendwann immer auch eine komische Note. Denn nicht jeder Taschenbesitzer ist der beste Werbeträger. So habe ich gestern einen älteren Herr im Hallenbad gesehen, der – nur mit einer Badehose bekleidet – seine Sachen in einer «Chicorée»-Tasche mit sich trug. Die Tussi-Tasche an einem Halbnackten ergibt dann doch eher einen tuntigen Gesamteindruck. Ich warte nur darauf, bis mir der erste Randständige mit einem schwarzen Kunststoff-Beutel begegnet, der seinen gesamten Hausrat in einer Salat-Tasche mit sich herumschleppt. Und die Wirkung, die so ein Bild hinterlässt, wird mit Sicherheit hängen bleiben – ob es den gewiften Marketingstrategen passt oder nicht.

Erschienen im Stadtanzeiger, 26. Sept 2007

Freitag, 24. August 2007

Die Figaro-Phobie

Ich bin umgeben von Wässerchen und Püderchen und harre meinem Schicksal. Da kommt sie auf mich zu, eine eigenwillige Haarpracht schmückt ihr Haupt. Mit einem Strahlen empfängt sie mich in ihrem Reich. «Diese Frau hat keine Ahnung, wie es gerade in mir drin aussieht», denke ich. Wie sollte sie auch? Das Phänomen der Spritzenphobie ist allgemein anerkannt. Die Assistentinnen beim Arzt wissen darum, sie fragen nach, genau für solche Fälle sind sie ausgebildet. Ich lasse jede Impfung ohne mit der Wimper zu zucken über mich ergehen, spende regelmässig Blut, spitze Nadeln oder Spritzen ängstigen mich nicht. Doch wenn ich einen Coiffeur-Salon betrete, sammelt sich der Angstschweiss in meinen Achselhöhlen. Es dauert Monate, bis ich mich zu einem Termin durchringen kann. Die Hälfte der Zeit verbringe ich damit, nach einem geeigneten Salon zu fahnden. «Cut and Color», der Mac Donalds des Coiffeur-Gewerbes, soll es dieses Mal sein: Nur eine halbe Stunde ist pro Schnitt eingerechnet, föhnen muss man selber. Perfekt für meine Bedürfnisse, denn eine halbe Stunde ist hoffentlich zu kurz für ein belangloses Coiffeusen-Gespräch. Die überflüssigsten Gespräche werden wohl mit Abstand auf dem Coiffeurstuhl geführt. Aber es ist nicht nur der Smalltalk, der mich stört. Die Berufsgattung des Haareschneidens wird allgemein unterschätzt, haben sie mit ihren Zickzack-Scheren doch eine ungeheure Macht in ihren Händen: Sie bestimmen darüber, wie du in den nächsten Wochen und Monaten durch die Gegend laufen wirst. Eine neue Frisur ist wie eine Tätowierung: Hat man sie einmal, ist sie nicht mehr so leicht zu entfernen. Zumindest für ein paar Monate. Die Coiffeusen scheinen sich dieser Problematik bewusst zu sein und fassen dich und deine Haare nur mit Samthandschuhen an, was meine Angstzustände noch verstärkt. Dadurch verliere ich jegliches Vertrauen in ihre Kompetenz und die Nässe unter meinen Armen breitet sich noch mehr aus. In solchen Momenten wünsche ich mir, so diskret behandelt zu werden wie ein vermögender Bankkunde. Ich möchte mich nicht verschwestern, ich brauche nur eine neue Frisur. Die nette Dame mit der eigenwilligen Haarpracht führt die Schere zwar nicht gerade wie ein Florett, aber sie schweigt und macht ein solides Handwerk. Die halbe Stunde ist schnell vorbei. Als mir später der Wind meine neue Frisur verweht, bin ich glücklich: Das ist ja nochmal gut gegangen! Nein, harmlos ist so ein Haare lassen nicht.

Montag, 13. August 2007

Das Regisseuren-Genie

Heute am Frühstückstisch fiel es mir wie Schuppen von den Augen: «Nicht der beste Regisseur dieser Erde könnte so ein Drehbuch schreiben!» Es gibt Momente im Leben, da erschliessen sich gewisse Zusammenhänge der eigenen Existenz ganz von selbst. Zusammenhänge der eigenen Gedankenwelt, der eigenen Biografie, der eigenen Handlungsmotivation. Unter Umständen liegen sie Jahre im Verborgenen und harren ihrer Entdeckung. Und dann geschieht etwas im Leben, ein Schicksalsmoment, der den Stein ins Rollen bringt. Meistens fühlt man sich einerseits auf eine diffuse Art verraten. Aber es ist auch ein sehr wertvoller, schützenswerter Moment der Selbsterkenntnis. Für einen Moment lässt ER sich in die Karten schauen. Er, das ist der, der uns lenkt. Im weitesten Sinne.

mann-mit-Hut

Der Regisseur unseres ganz persönlichen Drehbuchs. Manche setzen ihn gleich mit Gott. Aber soweit muss man gar nicht unbedingt gehen. Ohne die Schöpferfrage zu stellen, könnte man auch davon ausgehen, dass wir alle unseren ganz persönlichen Regieanweiser haben, der auf einem Stern sitzt und uns lenkt. Er greift nur indirekt in die Handlung ein, indem er uns mit Personen oder Situationen kollidieren lässt, die unserer Entwicklung dienlich sind. Er kennt uns besser, als wir selbst uns kennen und hat die Fähigkeit, weit in die Zukunft zu sehen. Er weiss, wie wir voraussichtlich reagieren und lässt Zufälle als Zufälle erscheinen, die keine sind. Und wenn wir einmal nicht handeln, wie er es erwartet hat, greift er an einem anderen Ort des Geschehens ein, um uns doch noch ans Ziel zu bringen. Er kennt den Masterplan. Ja vielleicht wurde er sogar vom Schöpfer angeheuert und arbeitet auf Auftragsbasis!

Mein ganz persönliches Regisseuren-Genie müsste ungefähr so aussehen, wie auf einer eben käuflich erworbenen Kunstkarte: Ein älteres, zufriedenes Mandlein mit buschigem Schnauzer und Hut, das sich gerade ein Glas Rotwein einschenkt und den Moment geniesst. Er hat so etwas unglaublich Verschmitztes. Vielleicht feiert er gerade einen genialen Regisseuren-Schachzug auf dem Schachbrett meines Lebens? Vielleicht ist gerade etwas aufgegangen, das er von langer Hand geplant hat? Und vielleicht stellt sich ja auch manchmal Ernüchterung ein, und dann rauft er sich die wenigen Haare, die noch übrig geblieben sind und denkt: «Ich mache es ihr so einfach, und doch hat sie es immer noch nicht kapiert!!» Es ist ein tröstlicher Gedanke, dass es da jemanden gibt, der mitfiebert beim Projekt, das unser Leben bedeutet.

Und vielleicht kann ich, wenn ich sterbe, auch auf den Stern und jemandem Patin stehen, vielleicht werde ich ja dann auch in den Masterplan eingeweiht und bekomme meinen ganz persönlichen Schützling zugeteilt? Wie ein Wichtel, der Gutes tut, aber niemals sichtbar wird.

9. August 2007

Dienstag, 31. Juli 2007

Der Bücherrausch - ein Aufsatz

Eine Bibliothek ist etwas Grossartiges, das Prozedere der Buchauswahl dafür umso komplexer. Denn es gibt Tage, da findet man trotz grosser Leselust kein einziges Buch, das so richtig ansprechend ist. Und manchmal, ja manchmal passiert es, dass man dabei in einen richtigen Rausch gerät. Dann findet man nur Bücher, die genau an die richtige Stelle im Herzen passen. In diesen Momenten fühle ich mich zugehörig zu einer Welt, die so viel über das Leben aussagt und trotzdem auf eigenartige Weise für sich selbst steht: Die Welt der Buchstaben.

Ich habe neulich einen Dokumentarfilm gesehen über Illetristen, also Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, obwohl sie es in der Schule jahrelang gelernt haben. Das Kamera-Team begleitete die Betroffenen zu den Kursen «Lesen und Schreiben für Erwachsene» und während zwei der Porträtierten grosse Fortschritte machen, zauderte der andere. Er blieb den Kursen fern, zeigte sich unmotiviert, obwohl er begabt war. In einem sensiblen Moment sprach er das Unerhörte in die Kamera: «Eigentlich gefällt mir mein Leben, so wie es ist. Doch wenn ich lesen und schreiben lerne, wird alles so schwierig».

Dieser Satz hat mich sehr berührt, denn er drückt aus, was für ein Umbruch im Leben desjenigen stattfindet, der lesen lernt. Was für eine Revolution! Und wie viele Konsequenzen es nach sich zieht. Die meisten von uns lernen das Schreiben und Lesen als Kinder, der Prozess geschieht eher unbewusst, so nebenbei. Man ist noch kein gewordenes Ganzes. Als Erwachsener jedoch hat man ein bestimmtes Selbstbild und ein bestimmtes Weltbild erarbeitet, was zusammen genommen die Identität eines Menschen überhaupt ausmacht. Diese Identität, könnte durch Fremdeinflüsse ins Wanken geraten oder im schlimmsten Fall sogar in sich zusammen stürzen.

Der Betroffene, nennen wir ihn G., war sich dieses Zusammenhangs durchaus bewusst. Er hat irgendwie gespürt, dass es etwas «Grosses» ist, was da gerade mit ihm passiert. Und trotz dem Bedürfnis, dazuzugehören zu dieser Welt der Buchstaben, war es für ihn auch eine Reise ins Ungewisse, deren Gefahren er sich nicht stellen wollte. Denn mit Lesen eröffnet sich einem eine völlig neue Welt. Für lange Zeit stand G. abseits davon und richtete sich sein Leben entsprechend ein. Die Angst, die ihm die Luft wegnahm, war nicht die Angst, endlich die Strassennamen entziffern oder eine Notiz für seine Frau hinterlassen zu können. Er ängstigte sich davor, dass seine Identität durch die leichtere Informationsbeschaffung in ihren Grundfesten erschüttert werden könnte.

Es ist dieses Versinken in sich selbst, das mich so fasziniert beim Lesen. Während man äusserlich ganz ruhig ist, spielt sich innerlich eine rege Aktivität ab, man ist sozusagen im inneren Dialog mit sich selbst. Man lernt sich durch das Gelesene anders kennen. Ein ähnlicher Effekt bewirkt ein guter Film, und doch ist man bei visuellen Medien viel passiver. Man lässt es einfach so auf sich einprasseln. Beim Lesen ist das anders. Man macht etwas, ist aktiv beteiligt. Es ist wohl schwierig, diese Leidenschaft, die ich fürs Lesen empfinde, jemandem begreiflich zu machen, für den alles, was damit zu tun hat, schon immer ein Kampf bedeutet hat. Ich kann an keinem Buchladen vorbei gehen, nur schon der Geruch von frisch bedrucktem Papier ist für mich verführerisch. Und manchmal stellt sich bei mir beim Anblick so vielen Büchern auf den Regalen wie bei G. ein Gefühl der Hilflosigkeit ein: «Mein Gott, mein Leben ist zu kurz, um all die Bücher zu lesen, die ich möchte!», denke ich dann. Aber das passiert nur an den guten Tagen. An den Tagen, wenn sich der Bücherrausch einstellt.

Doch es gibt gute Nachrichten für G.: Der Bücherrausch ist eher eine Ausnahme, das Leben meint es gnädig mit uns. G. braucht sich nicht zu fürchten. Die Welt, die sich da zwischen zwei Buchdeckeln auftut, ist immer nur Ergänzung. Es braucht «the real thing», das richtige Leben. Man muss nach zwei Stunden völliger Abgeschiedenheit in einer Buchhandlung wieder auf die Strasse treten können, die frische Luft einatmen und dem Strassenmusikanten zulächeln. Aber das Gefühl in einem drin wird ein anderes sein. Ein Mensch braucht die Anregung von innen, aber auch die Inspiration von aussen. Das Leben selbst sorgt für die ihm eigene Balance.

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