Donnerstag, 11. Dezember 2008

Ertappt vom Anti-Ich

Es gibt Menschen, die sind das pure Gegenteil des eigenen Selbst. Angesicht zu Angesicht mit seinem ganz persönlichen Anti-Ich fühlt man sich leicht wie der ungeschickteste und unperfekteste Mensch auf dem Rund dieser Erde. Ich gestehe: ich bohre leidenschaftlich gern in der Nase, schwanke auf meinen Absatzstiefeln wie auf einem Schiff, meine Wimperntusche ist ständig verschmiert und ab und zu landet auch eines meiner langen schwarzen Haare in der Pfanne, in der ich gerade rühre, womit mir eine erstklassige Überleitung gelungen ist.

Ich hatte Freunde zum Essen eingeladen. Eigentlich gehört es ja nicht zu meinen Tugenden, Freunde zu bekochen, weil ich rein theoretisch gar nicht kochen kann und zudem eine wirklich miserable Gastgeberin bin. Die Gastgeberrolle ist mir einfach nicht auf den Leib geschnitten, jedes Mal wird es mir auf halber Strecke zu anstrengend. Und mitten im offenen Feld ist dann an eine Rückkehr unmöglich mehr zu denken. Nun ja. Jedenfalls beschloss ich, meinen lieben Freunden das simpelste, kalorienhaltigste und massloseste Gericht der Saison aufzutischen: Schokoladen-Fondue. Der Klang dieses Namens wird manche an längst vergangene Pfadfinder-Tage erinnern, und auch sonst holt man sich mit diesem Menu ganz sicher keine Gault-Milieu–Punkte. Schokoladen-Fondue, sagen wir es einmal so, ist der Traktor unter eleganten Karossen: Ausschweifend, gut-bürgerlich, provinziell, ein bisschen vulgär irgendwie. Einfach total anti-urban.

Unter normalen Umständen würde ich mir ja über das Image meiner Menuwahl nicht so viele Gedanken machen. Hätte ich nicht auf so gemeine plakative Weise den Spiegel vorgesetzt bekommen: Beim Einkaufen in der Migros nämlich läuft mir mein Anti-Ich just in jenem Moment über den Weg, als ich gerade damit beschäftigt bin, rezeptgetreue zwei Kilo Schokolade in meinen Einkaufskorb zu schichten. Inflagranti ertappt…! Die Schokolade wiegt plötzlich zentnerschwer. «Auch beim Einkaufen?», säuselt mein Anti-Ich mit einer gespielten Höflichkeit, die solchen Momenten gebührt. Denn das einzige, worüber wir uns wirklich einig sind, ist die Tatsache, dass wir uns nichts zu sagen haben. «Ja ja, Wochenendeinkäufe», erwidere ich in einem möglichst unverbindlichen Tonfall, ein Stossgebet zum Himmel schickend, sie möge die zwei Kilo Schokolade in meinem Einkaufskorb übersehen und stattdessen die vielen Bananen und Äpfel zur Kenntnis nehmen.

Wäre sie nicht sie gewesen, hätte ich natürlich voller Enthusiasmus erzählt, dass ich meine Freunde zum ausgiebigen Schlemmen geladen hatte. Vielleicht hätte ich die Geschichte sogar noch etwas ausgebaut, ihr etwas Farbe verliehen. Doch mein Anti-Ich würde den Reiz eines ausschweifenden Fress-Gelages unmöglich verstehen. Deshalb sind Menschen wie sie ja auch mein Anti-Ich. Nach dem kleinen Small-Talk-Crash habe ich es eilig, an die Kasse zu kommen. Während ich meine Einkäufe geschäftig in die Tüte packe, biegt ein Kollege von ihr um die Ecke. Grosses Hallo. «Wir müssen unbedingt wieder einmal ein Sushi machen», höre ich ihn sagen. In diesem Moment geht mir ein Licht auf. Sushi… na klar. Ein cooles, total urbanes und angesagtes Sushi ist genau die bevorzugte Menuwahl meines persönlichen Anti-Ichs: Akkurat in Form geschnitten und fast hundert Prozent fettfrei.

Es wurde übrigens ein netter Abend. Dass sich drei von sechs Anwesenden – die Köchin inklusive – 24 Stunden später die Seele aus dem Leib gekotzt haben, hatte WIRKLICH nur indirekt etwas mit meinem Schokoladenfondue zu tun…

Dienstag, 9. Dezember 2008

Immer Sonntag auf den Malediven

amazonen_negativIch erinnere mich, wie Kaktusblüte einmal zu mir gesagt hat: «Für Singles ist der Sonntag ist schon der verschissenste Tag von allen!» Das kam so ehrlich und aufrichtig rüber, dass mich sogleich das Bedürfnis packte, mich demütig vor ihr niederzuknien und sie gleichzeitig stürmisch zu umarmen. Mit diesem Satz spricht sie mir und Millionen von anderen Singles rund um den Erdball aus tiefstem Herzen. Am Sonntag hat man sich als Single gefälligst selbst zu genügen, auf Kommando und Knopfdruck, denn der Sonntag ist der Tag, den alle anderen mit dem Partner und – falls vorhanden – den Kindern verbringen. DAS IST EINFACH SO. Das ist verbürgt. Punkt, Aus und Schluss. Der Sonntag ist der Familienpicknick-Tag, der Connylandausflugtag oder der Im-Bett-bleiben-lesen-und-vögeln-Tag. Es gibt nur wenig, was sich in der globalisierten Welt an traditionellen Werten halten konnte, der Sonntagsbraten und Konsorte haben es leider geschafft. So eine Gemeinheit. Ich möchte nicht wissen, wie viele Singles sich am Sonntag im Fitnesszentrum auf den Geräten abstrampeln, nur um gegen die Leere anzukämpfen, die sich in ihrem Innern breit gemacht hat, ihnen den Hals zuschnürt und das Herz schwer werden lässt. So ein Sonntagnachmittag kann bleischwer auf einem liegen, so viel kann ich rübermorsen von meinem männerlosen Planeten. Am Tag der Gemeinschaft auf sich gestellt zu sein, steigert die gefühlte Einsamkeit – und, je nach vorüber ziehendem Tiefdruckgebiet – auch die Verzweiflung.

Gemeinerweise ist ja der Sonntag auch der Tag, an dem die Läden geschlossen sind, als Single wird man also auch noch jeglicher Chance beraubt, sich zu zerstreuen. Und sowieso, so weit das Auge reicht, sind da immer nur diese Pärchen! Die Welt ist ein Pärchen-Nest. Genau wie wenn ein Passagierflugzeug aus den Malediven am Flughafen ankommt: Jeder einzelne, der aus dem Flugzeug steigt, ist zwischen zwanzig und vierzig und hat den Partner im Schlepptau. Auf den Malediven, dem Mikrokosmos der Liebespaare, ist es immer Sonntag.

Und was ist das erste, was wir gutmütigen Single-Freundinnen intuitiv tun, wenn unsere Freundin von ihrem Liebsten verlassen wird? Natürlich: Wir sorgen für die Sonntagsunterhaltung. Wir laden zum Kaffee, ins Kino oder ins Museum. Weil Liebeskummer und das Sonntagsgefühl sich schlecht vertragen. Schonen, schonen, schonen, das ist jetzt oberstes Gebot, die Freundin soll keinesfalls diesem klammen Gefühl ausgesetzt sein, das für uns zum Alltag gehört. Wenn wir ehrlich sind, geniessen wir die unerwartete sonntägliche Gemeinschaft. Obschon der Nachgeschmack etwas schal ist im Abgang. Denn wir wissen genau, dass wir nur die Lückenbüsser sind - und es immer bleiben werden. Sollte sich das ganze Trennungsdesaster bei Lichte besehen doch nicht als ganz so tragisch erweisen, hockst du bereits nächsten Sonntag wieder allein im Café.

Fest steht, und da würde mir Kaktusblüte sicher Recht geben: Der Sonntag und die Malediven gehören abgeschafft. Zumindest für Letzteres stehen die Chancen ja gar nicht mal so schlecht. Endlich mal eine gute Nachricht.

Donnerstag, 4. Dezember 2008

Zitronenbäume für den Gin Tonic

«Ich mag Alkohol nicht.» Diesen Satz hat kürzlich jemand zu mir gesagt, was mich im ersten Moment irritierte und dann sehr beeindruckte. «Ich rauche nicht», das ist unterdessen gesellschaftlich salonfähig geworden, und wenn jemand aus ideologischen oder religiösen Gründen keinen Alkohol trinkt, hat die Begründung entsprechendes Gewicht. Doch Alkohol zu meiden, weil er ganz einfach den persönlichen Geschmack nicht trifft, hat etwas Revolutionäres. Es ist nun mal nicht zu ändern, dass Alkohol in unserer westlichen Gesellschaft eine soziale Funktion hat. Man degradiert sich zumindest teilweise zum Aussenseiter, wenn man während einer durchzechten Nacht mit Freunden die Finger von der Flasche lässt. Im Übrigen habe ich mich schon oft gefragt, ob all jene, die an Bierflaschen nippen, das bittere Gesöff tatsächlich mögen.

Zitronenbaum
Bildquelle: Pixelio

Nicht dass wir uns falsch verstehen: Wie gern würde ich mich lässig über die Bartheke lehnen und eine Stange bestellen. Ich finde das cool! Doch ich hasse Bier, ich hasse auch Cocktails aller Art (wenn nur der Alkohol darin nicht wäre…), ich bin sehr heikel was Weisswein betrifft und bereits vom ersten Glas Rotwein (den ich als einziges alkoholisches Getränk vergöttere) bekomme ich eine rot-violette Zunge. Als wäre es nicht schon genug, dass das einfach total unerotisch wirkt, sehe ich mit einer solchen Zunge auch noch aus wie der hinterletzte Alkoholiker nach dem zehnten Glas! Dabei bin ich wirklich weit davon entfernt, dem Alkohol anheim zu fallen. Es ist wie verhext, mit mir und dem Alkohol. Doch das alles ereignete sich, bevor der Gin Tonic in mein Leben trat.

Letztes Wochenende wäre ich nämlich endlich soweit gewesen. Der Samstagabend zog ins Land und meine Freundinnen und ich besuchten eine Veranstaltung, an der ein Trinkgelage aus Gründen, die ich hier nicht näher erläutern möchte, ganz einfach dazu gehört. Und ich war bereit für den Satz. Ich war bereit zu sagen: «Ich mag Alkohol nicht.» Doch das Schicksal hatte etwas anderes mit mir vor und liess mich just in diesem Moment den Gin Tonic entdecken. Und ich habe das unbestimmte Gefühl, dass er so schnell nicht mehr daraus verschwinden wird. «Sogar die Queen trinkt Gin Tonic», sagte die freundliche Kollegin, die mich in die Welt des Gin Tonics einführte. Wow….das hat Stil!

Es ist schon seltsam, wie lange es manchmal dauern kann, bis wir in einem bestimmten Lebensbereich das finden, was uns wirklich entspricht. Ich meine, wie viele Abende in meinem Leben habe ich bereit damit zugebracht, unschlüssig über der Getränkekarte zu brüten um zwischen den Verdikten «zu klebrig», «zu bitter» oder «zu süss» eine qualvolle Wahl zu treffen. Das alles wäre gar nicht nötig gewesen, hätte ich den Gin Tonic bereits gekannt!

Restlos überzeugt von der Theorie, dass der Gin Tonic mich auf meiner Reise, die mein Leben bedeutet, eine Weile begleiten wird, hat mich heute ein Gespräch mit einem sehr fröhlichen Mann am Flughafen. Er erzählte mir rundweg heraus, er sei nun im Pensionsalter und würde jetzt «der Sonne nachreisen». Er befand sich gerade auf dem Weg nach Neuseeland, wo er ein Häuschen besitzt. Als nächstes erzählte der rüstige Rentner ganz unvermittelt, dass er zwei Zitronenbäumen im Garten stehen habe, wo er die Zitronen frisch vom Baum pflückt, und jetzt kommts: «Für den Gin Tonic!» Dabei strahlte er über das ganze Gesicht.

Der fröhliche Rentner berichtete mir ausserdem noch von seiner Haushälterin und Zitronenbaumgärtnerin, die vom Gin Tonic immer ganz «truuurig» werde. Er rollte dabei das «r» und zog das «u» in die Länge, so wie es in manchen Dialekten üblich ist, was dem Gefühl, wie ich finde, sehr gerecht wird.
Ich kann nur für mich sprechen, aber mein allererster Gin-Tonic-Abend vom letzten Wochenende machte mich ausgesprochen heiter. Wenn alles gut geht, werde ich in Zukunft lässig über die Theke lehnen und einen Gin Tonic bestellen. Das hat Stil. Und das Beste ist, dass ich mir dabei erst noch vorgaukeln kann, dass ich meinen ursprünglichen Plan in die Tat umsetze und abstinent lebe. Schliesslich ist der Gin Tonic so klar, dass er aussieht wie Mineralwasser. Erst recht, wenn noch eine Zitronenscheibe darin schwimmt. Ich muss mich dringend über winterharte Zitronenbaumsorten informieren.

Dienstag, 2. Dezember 2008

Antraben zum Anschauungsunterricht

Ein Schaufenster zu dekorieren ist hohe Kunst. In der kleinen Stadt, die wir alle gut kennen, lohnt sich ein kleiner Anschauungsunterricht ganz besonders. In eben dieser kleinen Stadt existieren zwei Auslagen, die unter seinen Bewohnern immer wieder für Gesprächsstoff sorgen. Längst sind sie zu Fixpunkten im kleinstädtischen Alltagleben geworden. An Markttagen flüstern sich ältere Damen zwischen Blumenkohl und Lauchgemüse zu: «Häschs neue scho gseh?» Entnervte Väter zerren ihre plärrenden Kinder hinter sich her und setzen sie für fünf Minuten vor eines der beiden Auslagen – je nach Bedarf als Trostmittel oder Bestrafung. Denn, welch Ironie, die beiden Schaufenster liegen unmittelbar nebeneinander. Und während das eine durch Stil und Witz besticht, zieht das andere die Blicke der Passanten auf sich durch seine – es sei mir verziehen – abgrundtiefe Hässlichkeit. Man kann es auch nicht als saisonalen Schnitzer entschuldigen, ich beobachte dieses Phänomen schon länger. Die Scheusslichkeit besagter Schaufensterdekoration ist ein sicherer Wert in unsicheren Zeiten. Die Laubbäume im Stadtpark verlieren ihre Blätter, der Bretterverschlag des Brunnens im oberen Graben wird verhämmert, ein Dekorationswechsel drängt sich auf – doch während das eine Fenster hässlich bleibt, setzt man im Nachbarhaus dekorationstechnisch zum nächsten Höhenflug an. Ein Anblick, vom Stadtbild nicht mehr wegzudenken. Und wir möchten es auch gar nicht. Solche Kleinigkeiten sind es doch, die die kleine Stadt, die wir alle so gut kennen, zu dem macht, was sie ist: Hoffnungslos unperfekt, und genau deshalb so liebenswert.

Erschienen im Winterthurer Stadtanzeiger, 25. November 2008

Dienstag, 25. November 2008

The flying hairstylist

amazonen_negativSelbst als Erwachsene kommt es noch vor, dass uns der Spieltrieb packt. Dann ist Kaktusblüte meine Spielgefährtin, die zu mir rüberkommt und mit mir «Kwoiförlis» spielt. Der einzige Unterschied zu Rollenspielen bei Kindern besteht darin, dass wir Erwachsenen die Haare tatsächlich schneiden. Kaktusblüte hat dafür sogar eigens eine Zickzack-Schere, was mir grossen Eindruck macht. She is the flying hairstylist. In grossen Lappen fällt mein Haar von mir ab, denn es ist dick, leicht gewellt und in rauen Mengen vorhanden. Das ist auch der Grund, sagt Kaktusblüte, warum sie sich überhaupt an meine Haare traut: Allfällige Ausrutscher seien bei mir nicht so leicht erkennbar. Die Ursache für dieses Haarkunstexperiment in den eigenen vier Wänden liegt nicht nur bei meiner enormen Sparsamkeit (um nicht zu sagen meinem nackten Geiz), sondern ist in erster Linie meiner angeborenen Abneigung gegen Haarspray geschwängerte Salons zuzuschreiben. Oder vielleicht sind mir in meinem Leben einfach zu viele böswillige Haarschneider begegnet, die mir zu viele katastrophale Frisuren verpasst haben. Seit ich bei «Chez Kaktusblüte» bin, passiert mir das nicht mehr. Seit sie bei mir die Schere ansetzt, heimse ich nur noch Lobhudeleien ein für meine Haarpracht…..so muss es sein!

Doch Kaktusblüte ist nicht nur im Departement Schönheit tätig. Auch zupacken kann sie. Dann fährt sie mit ihrem schnittigen Kleinwagen auf meinen Vorplatz, den Akkubohrer im Kofferraum, und im Nu ist der Mobitare-Schreibtisch oder der Ikea-Wandschrank zusammengebaut. Ja, richtig gehört, sogar einen Akkubohrer besitzt sie – einen handlichen, zusammenklappbaren. Und ich liess mich noch von einer lächerlichen Zickzack-Schere beeindrucken! Seit die Akkubohrer-Ära angebrochen ist, bin ich überzeugt, dass es Kaktusblüte in der Heimwerkerwelt weit bringen wird. Obwohl wir in feministischen Zeiten leben, kann noch nicht jeder Mann uneingeschränkt akzeptieren, dass eine feingliedrige, schlanke Person ihn im Dübeln und Nageln alt aussehen lässt. Anlässlich von Umzugsarbeiten bei Freunden wurde das schon mehrfach augenscheinlich. Deshalb hier nochmals für alle zum Mitschreiben: Es ist eine Frage des Talents, und nicht des Geschlechts. Kaktusblüte illustriert das auf eindrückliche Art und Weise, hantiert sie mit der Zickzack-Schere doch genauso geschickt wie mit dem Akkubohrer. Wie einfach es doch theoretisch wäre, einschränkende Geschlechterrollen hinter sich zu lassen und sich bei der Zügelarbeit stattdessen über die Süssigkeitenschublade herzumachen! Wie man das macht, können sich die Männer dann bei Lockenkopf abschauen.

Beitrag auch auf tink.ch

Dienstag, 11. November 2008

Die Fürstin der Liebesbriefe

amazonen_negativIn Lockenkopfs Besitz befindet sich etwas, das mich vor Neid erblassen lässt: Eine Liebesbrief-Box. Darin hat sie sämtliche Liebesbriefe aufbewahrt, die sie jemals bekommen hat. Viele davon sind seriöse Liebesbriefe ihres Freundes, Tinte gewordene Gefühle. Der ganze Rest stammt von Verflossenen aus längst vergangenen Teenagertagen, denen Lockenkopf längst keine Träne mehr nachweint. Sie haben heutzutage nur noch unterhaltenden Wert und sind daher auch für uns Freundinnen offen einsehbar. So kommt es vor, dass wir im Halbkreis um die Box sitzen, den Kopf tief vornüber gebeugt und uns gegenseitig plumpe oder jugendlich überhitzte Liebesschwüre vorlesen – was für ein Spass!

Manchmal ärgert sich Lockenkopf auch noch nachträglich über ihre einstigen Liebhaber. Liebesbriefschreiber C. zum Beispiel, «der konnte nicht mal seinen eigenen Namen richtig schreiben!», ereifert sie sich dann. Schludrig verfasste Liebesbriefe sind Lockenkopf ein Gräuel. Rechtschreibefehler oder eine nachlässige Handschrift sind für die Liebesbrief-Fürstin ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich der Betreffende einfach zu wenig Mühe gegeben hat. Auch wenn ihr Verhalten leicht divahafte Züge angenommen hat (nicht jeder kann schliesslich mit einer ganzen Liebesbriefe-Box aufwarten), gehe ich doch grundsätzlich mit ihr einer Meinung: Eine schöne Handschrift oder eine ansprechende Schreibe können die Qualitäten eines Mannes adeln. Was die Männerwelt vielleicht in Erstaunen versetzen wird: Eine Schönschrift hat erotische Wirkung, verleiht dem Mann Glanz und bringt dem Betreffenden somit viele Bonuspunkte ein. In digitalisierten Zeiten mit sms und E-Mail ist es allerdings etwas schwierig geworden, an solche wertvollen Indizien heranzukommen.

«Das waren noch Zeiten, als man sich noch Liebesbriefe geschrieben hat!», seufzte Lockenkopf vorige Woche verträumt. Verständlicherweise weint sie dem vergangenen Liebesbrief-Zeitalter heute noch nach. Wäre ich Besitzerin einer solchen Box, mir würde es ähnlich ergehen. Doch in meiner Liebesbriefe-Box herrscht leider gähnende Leere, ein tiefes schwarzes Nichts starrt mir entgegen. Ist das Leben gerecht? Schliesslich bin ich doch hier die Buchstabenverrückte! Einmal habe ich der Eremtin mein Leid geklagt. Auf meinen 26. Geburtstag im letzten Mai erhielt ich dann einen von ihr verfassten Liebesbrief an mich. Ich habe geweint vor Rührung! Noch nie in meinem Leben habe ich einen so schönen Brief bekommen. Meinen einzigen Liebesbrief hüte ich wie ein Schatz. Ich bewahre ihn in einer Blechkiste auf, zusammen mit ein paar anderen Dingen, die mir wichtig sind. Und es ist mir schlichtweg unmöglich, ihn ein zweites Mal zu lesen – aus Angst, sein Zauber könnte mich nicht mehr so heftig erfassen wie beim ersten Mal. Ich kann nun auch all die Männer mit den leicht unperfekten Handschriften beruhigen: Wenn der Inhalt stimmt, spielt die Form keine Rolle mehr.

Dienstag, 14. Oktober 2008

Das Ende der Romantik

Die Amazone sinniert über Liebesszenen in Filmen und warum unsere Erinnerung manchmal trügt.

amazonen_illustration_rot Magische Augenblicke haben ein langes Leben. Noch Jahre später haften sie in unserer Erinnerung. Bei Filmen verhält es sich ganz ähnlich: Meistens ist es nicht der ganze Film, der uns in Erinnerung bleibt, sondern einzelne Sequenzen daraus. Manche Szenen gehen uns so unter die Haut, dass sie uns fast ein bisschen «gehören». Sie erreichen Kultstatus, werden zu etwas mit einer Geschichte und bleiben im Freundinnen-Kollektivgedächtnis haften – bis jetzt und in alle Ewigkeit. Unter den Amazonen ist das zum Beispiel bei der Schlussszene in «Notting Hill» der Fall, als er ihr auf der Parkbank aus einem Buch vorliest, ihr Kopf ist auf seinen Schoss gebettet. Oder die Hebefigur-Szene im Film «Dirty Dancing» – ein absoluter Klassiker! Da schmelzen wir reihenweise dahin – immer und immer wieder. Das ist das Schöne an Filmszenen: Anders als magische Momente im eigenen Leben lassen sich Filmszenen auf Knopfdruck wiederholen.

Auch im Film «Ghost» mit Patrick Swazey und Demi Moore gibt es eine solche Szene. «Die Töpferszene!», schwärmen Kaktusblüte und ich und schmelzen schon beim Gedanken an die Töpferszene dahin wie der Tonkrug auf der Töpferscheibe, der beim Liebesspiel des Paares in sich zusammen fällt. Ultimativ erotisch. Ein Sinneserlebnis der dritten Art. Per SMS lasse ich die Freundin wissen: «Ich schaue mir heute Abend 'Ghost' an. Mit der Töpferzene!» Zufrieden male ich mir aus, wie meine Freundin bei Erhalt meiner Botschaft gedanklich in Begeisterungsstürme ausbrechen wird.

Wie angekündigt mache ich es mir also mit mir selbst gemütlich, kuschle mich in meine Bettdecke und harre voller Erwartung dem, das da kommen wird. An die Handlung des Films habe ich keinerlei Erinnerung mehr, doch die Töpferszene zeichnet sich glasklar vor meinem inneren Auge ab. Zumindest glaube ich das. Eine Viertelstunde nach Filmstart sitze ich wie ein begossener Pudel vor dem Fernsehgerät und fühle mich um das Vorspiel betrogen. Viel zu früh flimmerte die vermeintliche Kult-Szene über die Mattscheibe, und ich hatte gar keine Gelegenheit, mich vor Vorfreude zu überschlagen. Ausserdem ist sie, man kann es nicht anders sagen, ein bisschen gar zahm. Als ich der Eremitin am nächsten Tag mein Leid klage («die waren ja nicht mal ganz ausgezogen!»), meint sie trocken: «Du bist einfach verdorbener geworden.» Ich lache kurz auf und muss im nächsten Momente zugeben, dass sie wohl Recht hat. Seit Kaktusblüte und ich den Film gesehen haben, sind wohl doch einige Jährchen verstrichen. Ein Trost hat mein desillusionierendes Erlebnis: Ich amüsiere mich dieses Mal prächtig über Whoopi Goldberg, die eine Hellseherin spielt und im katastrophalen Deux-Pièce mit ihrem typischen Dackelgang über die Strassen New Yorks watschelt. Es ist beruhigend zu wissen, dass ich in den letzten Jahren vielleicht gewisse romantische Idealvorstellungen eingebüsst, aber dafür wenigstens an Humor gewonnen habe!

Mittwoch, 8. Oktober 2008

Besser leben Part one

1. Einen Drachen steigen lassen
2. Eine Raupe als Haustier halten
3. Im Urwald aufwachen
4. Eine selbst gemachte Kürbissuppe zubereiten
5. Eine exotische Sprache lernen
6. Spontan einen Fremden küssen
7. Ein Jahr auf einer Insel leben
8. Ein Gedicht auswendig lernen
9. Einen Sommer lang nicht arbeiten
10. Mit dem Fahrrad durch die Stadt fahren und "Amélie" hören

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Kugelbombenu-Kaffee_cover

IMPRESSUM

edith.truninger(at)gmail.com Copyright für alle Texte bei der Autorin

Schreiben...

...ist für den Schriftsteller immer die beste aller Möglichkeiten. unbekannt

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shanayabindra - 23. Mai, 09:13
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Jan (Gast) - 31. Dez, 15:13
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Eduschka - 18. Aug, 20:35
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Das Leben ist so kostbar. Machen wir etwas draus! Verbringen...
Eduschka - 18. Mai, 14:04

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Chalid al-Chamissi
Im Taxi: Unterwegs in Kairo

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