Manchmal verspüre ich diese unbändige Lust, eine längere Reise zu unternehmen und damit mein eigenes Selbst zur Disposition zu stellen. Sämtliche Bindungen zu lösen, alte Fesseln loszuwerden, Abstand zu gewinnen, vom eigenen Leben, und manchmal auch vom eigenen Selbst. Die Schriftstellerin Francesca Marciano hat einst gesagt: «Ein Reisender ist jemand, der eingewilligt hat, die Kontrolle aus der Hand zu geben.» Menschen reisen – soviel ist mir klar – aus ganz unterschiedlichen Gründen. «Daheim-Menschen» finden reisen vor allem anstrengend. Für sie ist es ein energetisches Problem, und zwar gleich auf zwei Ebenen: Einerseits ist da die physische Anstrengung. Um einen Körper von A nach B zu bewegen, muss Energie freigesetzt werden, lernen wir im Physikunterricht, und der eigene Körper stellt hier leider keine Ausnahme dar. Hinzu kommt eine unbestimmte, psychische Anstrengung, denn irgendwie muss der Mensch all die neuen Sinneseindrücke verarbeiten. Wer sich das nicht mehr gewohnt ist – jemand, der aus gesundheitlichen Gründen an einen Ort gebunden ist, beispielsweise – kann auf Reisen eine regelrecht Reizüberflutung erfahren. Die hungrigen Sinne, die auf einer Reise urplötzlich ein solches Übermass an Nahrung erhalten, können den Reisenden in einen übermütigen, geradezu rauschartigen Zustand versetzen. Beim Reisen gibt es keine sanften Übergänge, auch keine lauwarmen Gefühle. Das macht es zu einem solch unberechenbaren Unternehmen. Es gibt das An-Ort-Treten, und es gibt das Unterwegssein. Und es gibt einen schmalen Streifen Übergang: den Flughafen.
Der Flughafen ist eine Schatzkammer an Gefühlen und Emotionen. Menschliche Freudenmomente und Tragödien ereignen sich auf engstem Raum. Am Flughafen befindet sich statistisch gesehen eine überdurchschnittlich hohe Zahl an Menschen in einer Ausnahmesituation; einem Krankenhaus nicht unähnlich. Doch im Unterschied zum Krankenhaus haben sich die Reisenden freiwillig in diese Situation begeben. Genau das macht das Reisen auch so «thrilling»: Die Tatsache, dass man aus freien Stücken eingewilligt hat, die Kontrolle aus der Hand zu geben. Das ist wie auf einem 10-Meter-Sprungbrett zu stehen im klaren Bewusstsein darüber, dass man sich jetzt dann gleich fallen lassen wird. Über die Massen Angst einflössend – und gleichzeitig über die Massen erregend.
Für Menschen, die das Reisen lieben, ist es körperlich genauso anstrengend wie für «Daheim-Menschen» – nur wird ihnen die Energie, die sie verlieren, an einem anderen Ort gleich wieder zugeführt. Ein passionierter Reisender erlebt es als sehr lustvoll, sich dem Strom des Lebens hinzugeben, neue Dinge zu erfahren, nicht zu wissen, was der nächste Tag, die nächste Stunde, ja was der nächste Moment bringen wird. Der Erfahrungshunger treibt ihn an. Reisen ist eine sehr vielschichtige Herausforderung, vielleicht eine der vielschichtigsten überhaupt, und passionierte Reisende erleben es als äusserst erhebend, sich ihr zu stellen. Reisen hat aber auch ein reduktionistisches Element. Eine längere Reise zu unternehmen bedeutet, für einige Wochen nichts anderes zu besitzen als ein paar Kleidungsstücke, ein Buch und die eigene Geschichte.
Dann wird Reisen zum Wunderinstrument, ähnlich einem Vergrösserungsglas. Es vermag den Fokus auf jene Dinge zu richten, die in unserem Leben gerade wirklich wichtig sind, alles andere fällt von uns ab. Unterwegs erkennen wir klarer, was Beziehungen uns bedeuten, woran es uns mangelt, was derzeit unser Bedürfnis ist und können dann «neu sortiert» nach Hause zurückkehren. Gesetzten Falles, wir lassen diese Gedanken überhaupt an uns heran. Andernfalls kann Reisen auch einfach eine intelligente Art der Zerstreuung sein. Auf jeden Fall ist Reisen – betrachtet man es vom Standpunkt einer bewussten Lebensgestaltung aus – ein ganz besonders effektvolles Stilmittel. Der Entscheid, sich auf eine längere Reise zu begeben, hat nicht selten direkt etwas mit unseren Lebensumständen zu tun. Wir reisen in Übergangsphasen. Vor dem Beginn eines Studiums, vor Antritt einer neuen Stelle, vor der Geburt des ersten Kindes. Jede Reise hat ihren Grund, ihre innere Logik. Junge Erwachsene begeben sich gerne auf eine längere Reise, um die Bindung zum Elternhaus zu kappen, wir reisen aus Gründen der spirituellen Selbsterfahrung, ja manchmal kommt Reisen sogar einer Flucht gleich, um sich aus alten Mustern zu befreien. Wenn wir aufbrechen, verändert sich der Rhythmus unseres Lebens, aus Kontrollverlust wird Tempogewinn, die unendliche Anzahl an Möglichkeiten lockt, hinzu kommt intensives Erleben, weil wir jegliche Sicherheiten hinter uns lassen. «Wer will schon ein durch Sicherheiten eingeengtes Leben?», fragt sich Amelia Earhart, US-amerikanische Flugpionierin. Und Francesca Marciano sagte einst: «Sich in Gefahr zu begeben heisst, sich bis ins Innerste berühren zu lassen.»
Niemand kommt als der gleiche Mensch von einer Reise zurück, als der er aufgebrochen ist. Fast immer bedeutet Reisen das Aufbrechen von alten Mustern, was im Wort Auf-Bruch eigentlich bereits verborgen liegt. Wenn innerlich etwas aufbricht, kann das sehr schmerzhaft sein. Daher sollte es eigentlich nicht erstaunen, dass es immer wieder Menschen gibt, die auf einer Reise ernsthaft psychisch erkranken. Dafür gibt es unzählige Beispiele aus der Vergangenheit. Albert Camus, Annemarie Schwarzenbach oder Nicolas Bouvier sind berühmte Reisende, die in der Fremde eine schwere Krise durchleben mussten. Eine Reise, zum Beispiel eine Pilgerreise, kann mit einem Heilsversprechen locken und es manchmal sogar erfüllen. Doch leider kann auch das Umgekehrte passieren und jemand verliert durch eine Reise völlig den Boden unter den Füssen. An seinen Polen – ob positiv oder negativ - ist Reisen immer eine Grenzerfahrung. Die Frage ist nur noch, in welche Richtung das Pendel ausschlagen wird. Reisen ist ein grosses Wagnis, der gestiegene Komfort von heute hat daran nichts geändert. Obwohl die Rückkehr in der heutigen Zeit – anders als früher – als selbstverständlich angesehen wird und bereits im Element der Abreise angelegt ist, hat eine Reise dennoch immer etwas Endgültiges. Abschied bedeutet Verlust. Jede Reise enthält die Erfahrung des Verlustes und schafft gleichzeitig Platz für Neues. Die äussere Befreiung, für die man sich entscheidet, zieht nicht selten eine innere Befreiung nach sich. Und am Ende steht die Befriedigung, das Abenteuer einer Reise bestanden zu haben. Das macht stolz. Und mutig. Und Lust auf mehr. Gegen das Reisen gibt es, ähnlich wie beim Küssen, ganz einfach nichts einzuwenden.
Eduschka - 31. Mai, 15:42
Ich habe verschiedene Standorte für meinen kleinen, fahrbaren Eiscrèmewagen. Doch am Liebsten arbeite ich im Aussendock, direkt vor der Glasfassade. Ich mag die grossen Fenster, die dem Tageslicht dieses Übermass an Raum zugestehen. «Die Schönheit eines Flughafens», schrieb bereits Le Corbusier, «liegt in der Pracht des offenen Raumes». Seine Tage am Fenster zu verbringen, bedeutet, nicht eine einzige Verfärbung des Himmels, nicht eine Stimmung oder Wolkenformation zu missen, ohne den Elementen als solches ausgesetzt zu sein. Die Weite vor meinem Fenster erinnert mich an die unermessliche Weite des Ozeans. Habe ich gerade nicht viel zu tun, stelle ich mir zum Spass manchmal vor, ich würde mich an Bord eines riesigen Ozeandampfers befinden.
Es ist eine Art Spiel von mir. In meiner Vorstellung befindet sich auf der untersten Etage – dort, wo die ankommenden Passagiere aus den Fluggastbrücken strömen – das Unterdeck mit dem Maschinenraum. Von den schmucklosen Betongängen führen die einzelnen Türen zu den Kabinen der Besatzung. Auf der Ebene darüber – dort, wo die abfliegenden Passagiere das Boarding ihres Flugzeugs warten – öffnet sich die Rundsicht, hier beginnt das Leben zu pulsieren, kleine Läden reihen sich aneinander, Cafés laden zum Verweilen ein. In meiner Fantasie verschwinden die modernen Reisenden mit Laptop und Kopfhörer und machen den Damen in eleganten Roben Platz, die – eingehängt am Arm eines eleganten Herrn in feinem Zwirn – über Deck flanieren, lesen, Schach spielen, hinter vorgehaltener Hand über die Mitpassagiere tuscheln oder einfach nur die Sonne geniessen. Auf der obersten Etage - dort, wo sich in Wirklichkeit Zuschauerterrasse und die Lounge befinden – breitet sich ein grosses Sonnendeck vor meinem inneren Auge aus, mit Liegestühlen, in denen die Transatlantik-Passagiere in der sechs Tage dauernden Überfahrt stundenlang vor sich hindösen werden. Ist der grosse Moment des «Leinen los!» gekommen, stellen sich die Reisenden an die Reling und winken den Zurückbleibenden auf der Mole zum Abschied zu. Selbst als das Getöse der Motoren ohrenbetäuend wird, stehen sie noch dort sehen dabei zu, wie die Silhouetten am Ufer kleiner und kleiner werden – bis sie nur noch als winzige Punkte am Horizont zu erkennen sind und schliesslich ganz verschwinden.
Lange Zeit war das Meer ein angstbesetzter Ort. Kaum jemand wäre in früheren Zeiten auf die Idee gekommen, ohne zwingenden Grund das Meer aufzusuchen. (Clausen, S. 82) Erst mit der Urbanisierung veränderte sich die Einstellung zum Meer. Plötzlich schien das Meer mit seiner Dauerhaftigkeit und seiner unendlichen Weite dem flüchtigen Stadtleben überlegen. Das Meer als Gegenkonzept zum hektischen, krank machenden Stadtleben wurde zum Sehnsuchtsort, genau wie die Berge. Für den «neuen Menschen» ist das Meer ein Ort der Kontemplation und des Lichts, der ihm die Möglichkeit gibt, sich selbst zu relativieren (Clausen, S.82). Eine offene Landschaft, die ausserhalb von Raum und Zeit steht. «Wer am Meer entlanggeht, der sieht in allem etwas Fernes, anders als nur in geografischem Sinn», hat der ungarische Schriftsteller Sandor Marai einst gesagt. Ob todbringend oder beschwichtigend, das Meer hat ohne Zweifel eine besondere Wirkung auf die menschliche Seele. «Sand in my shoes», singt die Popsängerin Dido und beschwört damit diesen leicht entrückten Zustand herauf, den ein Tag am Meer in unserer Gefühlswelt hinterlässt und uns mitunter noch tagelang begleitet.
«Wohnen sie am Meer?», das ist eine Frage, die ich meinen Kunden häufig stelle. Sie interessiert mich deshalb so brennend, weil sie zu einer Thematik gehört, die mich schon lange beschäftigt: Fördert die Weite vor unserer Haustür die Weite unseres Denkens? Werden wir offener, durchlässiger, toleranter? Überträgt sich der Panorama-Blick in unser Herz? Zuerst sind die meisten Befragten etwas irritiert angesichts der Unvermitteltheit meiner Frage. Ist der erste Moment der Verwunderung einmal überwunden, geben sie jedoch meistens sehr freudig Auskunft. Die häufigste Antwort, die ich bekomme, verblüfft mich immer wieder aufs Neue, denn sie lautet: «Wir wohnen zwar am Meer, doch wir spazieren nur äusserst selten am Strand.» Um dann meistens noch halb entschuldigend hinzuzufügen: «Das, was man von der eigenen Haustüre hat, weiss man eben einfach zu wenig zu schätzen.» Zeigt sich das Meer also zu offensichtlich, scheint es seine Wirkung zu verlieren. Und muss wie eine Diva jede Gelegenheit nutzen, um auf sich Aufmerksam zu machen. Es wird launisch, wild und unberechenbar. «Das Land ist sicher, auf das Meer ist kein Verlass», hat bereits der Griechische Philosoph Pittakos gesagt und bringt damit diese Urangst des Menschen vor dem Meer zum Ausdruck. Im Grunde genommen ist das Meer ein menschenfeindlicher Ort.
Und dennoch lassen wir im Sommer keine Gelegenheit aus, ans Meer zu fahren. Das Meer ist ein beliebter Ort für Spiel, Spass und Freizeit. «Warst du schon mal am Meer?», fragt das Kind seine Freundin. Die ersten Ferien am Meer prägen sich tief in die Erinnerung ein. Noch als Erwachsene lässt uns das Salz, das wir nach dem Schwimmen auf unseren Lippen schmecken, an längst vergangene, unbeschwerte Kindertage zurückdenken. Das Meer ist aber auch ein bevorzugter Ort, um seine Gedanken schweifen zu lassen und den Kopf frei zu bekommen. Welche Tätigkeit eignet sich besser, um über sich und sein Leben zu reflektieren, als ein Spaziergang am Strand? Aus der Sicht der Ästhetik des Erhabenen, wie sie von Kant entwickelt wurde, kann das Innehalten am Strand eine besondere Schwingung des Ich auslösen, das sich erregt den Elementen gegenübersieht. Am Meeresufer, dort, wo Luft, Wasser und Erde ineinander übergehen, treffen die elementarsten Kräfte aufeinander. «Die Leere des Ozeans, zum metaphorischen Ort des persönlichen Schicksals erhoben, lässt den Strand als einen Grenzbereich erscheinen, der den Spaziergänger, unentwegt den Rhythmen des Wassers und des Mondes ausgesetzt, zu einer periodischen Lebensbilanz auffordert.» (Corbin, S.214)
Das Meer lädt uns aber nicht nur ein, über uns selbst nachzudenken, es kann auch eine Metapher sein für die unendliche Zahl an Möglichkeiten, die das Leben zu bieten hat. Demnach würde das Meer uns stetig zuflüstern: «Komm, verändere dich!» Es selbst macht es ja nicht anders. Dem Wind und den Kräften des Mondes ausgesetzt, ist das Meer nichts anderes als ein Sinnbild für Veränderung. Es wechselt von Ebbe zu Flut und dann wieder zu Ebbe, es lässt die Wellen branden, nur in seltenen Momenten liegt es still und schön da wie ein Seidentuch. Auch für Generationen von Auswanderungswilligen bedeutete das Meer nach der Entdeckung Amerikas das Tor in eine neue Welt. Sie mussten das Leben, so wie sie es gekannt hatten, hinter sich lassen im Wissen darum, dass sie niemals zurückkehren würden. Sich hingeben. Sich den Wellen und dem Meer überlassen, den Launen der Natur, der Technik, dem eigenen Schicksal. Es war der grosse, beherzte Sprung in ein neues Leben.
Besonders schön ist es im Aussendock, wenn die Sonne scheint. Die direkte Sonneneinstrahlung verleiht jedem Staubkörnchen Glanz, die Sitzreihen werden in ein goldenes Licht getaucht. Sonne und Architektur ist ein hinreissendes Paar. Alles wirkt plötzlich so anmutig, so überaus erhaben. Und manchmal, ja manchmal, wenn nachmittags die Sonne scheint und ich blinzeln muss, weil die Schneeberge der Glarner Alpen in der Ferne verführerisch glitzern, kommt es mir vor, als könnte ich am fernen Horizont die Fackel der Freiheitsstatue verheissungsvoll schimmern sehen.
Quellen: Corbin, Alain. «Meereslust». Das Abendland und die Entdeckung der Küste. Wagenbach.
Clausen, Jens. «Das Selbst und die Fremde». Über psychische Grenzerfahrungen auf Reisen. Edition Das Narrenschiff.
Eduschka - 14. Mai, 13:07
Sitting on my eyelashes
Wie ist es, wenn man seine Stimme verliert, sei es auch nur für ein paar Stunden? Unfreiwillig aufs Zuhören beschränkt, sieht man die Dinge plötzlich klarer. Obschon neulich nur noch ein Krächzen aus meiner Kehle kam, wollte ich mir das Ausgehen nicht nehmen lassen und fand mich Grog trinkend an der Bartheke wieder. Mit meinen Freundinnen unterhielt ich mich, indem ich Satzfragmente auf Zettelchen schrieb. Obwohl meines wichtigsten Ausdrucksmittels – meines Sprechapparates – beraubt, fühlte ich mich im Gespräch in der Gruppe nicht eine Nanosekunde lang unverstanden. Meine Freundinnen besassen die Fähigkeit, die Satzfragmente, die ich notierte, in den richtigen Kontext zu setzen, mühelos, wie selbstverständlich. Nie gab es auch nur ein einziges Missverständnis. Staunend musste ich erkennen, dass eine grosse Freundschaft wie ein lebendiger Organismus ist, der Fehlendes fortlaufend ergänzen kann. Dieses Erlebnis hat eine Neudefinition von Freundschaft in meinem kleinen Leben nötig gemacht. Meine Freundinnen sind die Stellvertreterinnen meiner aussetzenden Sinne. Würde ich mein Gehör verlieren, meine Freundinnen würden mir ihre Ohren leihen. Würde ich meine Fähigkeit zu riechen einbüssen, meine Freundinnen gäben mir mit ihren Nase den Duft der Welt zurück. Würde ich erblinden, meine Freundinnen machten mir mit ihren Augenpaaren die Welt wieder sichtbar.
Über Freundschaft wurde in der Geschichte bereits viel geschrieben. Doch nicht alle Denker haben die Freundschaft zwischen Menschen gleich hoch bewertet. Der französische Philosoph Jacques Derrida zum Beispiel soll in einer der berühmtesten Aussprüche über Freundschaft gesagt haben: «Oh meine Freunde, es gibt keine Freunde!» Immanuel Kant hat das später umformuliert in: «Keine Freundschaft kongruiert völlig mit der Idee der Freundschaft.» Nach diesem Denkmodell wäre das Ideal von Freundschaft unerreichbar und somit eher als ein Kanon von Richtlinien zu verstehen, der aufzeigt, wie Menschen miteinander umgehen sollten.
Freundschaft als ein Gebot des guten Umgangs miteinander – der Gedanke ist nicht neu. Bereits in der antiken Philosophie hatte die Tugendhaftigkeit der Freundschaft ihren festen Platz. Aristoteles begründet dies so: «Der Tugendhafte verhält sich zum Freund wie zu sich selbst, denn der Freund ist ein anderer 'er selbst'. Freundschaft bedeutet, dieselben Grundwerte zu teilen, was ein bedeutsames Gefühl von Gemeinschaft hervorruft. Schreibt man Freundschaft die Bedeutung eines übergeordneten Werte- und Bezugssystems zu, sind wir dem Prinzip von Religion bereits sehr nahe.
Man kann die Freundschaft zur Religion ernennen, man kann sie aber auch zur Kunstform erheben. Ja, in der Tat: Freundschaft ist mehr, als der Freundin die Haare aus dem Gesicht zu halten, wenn sie über der Kloschüssel hängt. «Satsang» nennt man in der indischen Philosophie ein Treffen unter Gleichgesinnten, den wahren Umgang pflegen, weg von den uneigentlichen Verhältnissen und den Zweckbündnissen hin zu den wahrhaftigen Freundschaften. In Einsamkeit kann sich kein Charakter ausbilden. Und letztendlich sind es immer die anderen, die uns zu unseren besten Gedanken inspirieren. Der Austausch ist ein wichtiger, lebendiger Teil von Freundschaft. Sich begleiten, eng begleiten. Gemeinsam unterwegs sein, gemeinsam WERDENDE sein. Meine Freundinnen sind nicht nur Stellvertreterinnen meiner aussetzenden Sinne. Sie haben auch einen festen Platz auf dem geschwungenen Bogen meiner Augenwimpern und leben meine Erfahrungen mit. Das Geheimnis besteht darin, dass sie zwar das gleiche sehen, aber selten das gleiche wahrnehmen. Schliesslich hat man von dort oben eine leicht andere Sicht der Dinge. Meine Freundinnen sind die Aussenansicht auf mein Leben, meine Bewusstseinswächterinnen. Und die Kunst der Freundschaft liegt vielleicht in der Disziplin, eine gesunde Distanz zu wahren, die der Respekt vor dem Anderssein des Freundes gebietet.
Doch was macht eine grosse Freundschaft aus? Zuallererst die Freiheit. Bereits die antiken Philosophen wussten es: «Allein unsere Freunde suchen wir uns in aller Freiheit.» Freundschaft ist die freiste aller Beziehungsformen. Diese Freiwilligkeit bis zum äussersten lässt Freundschaft so edel erscheinen, verleiht ihr diese fast schon majestätische Anmut. Die Bande mit Eltern oder Geschwistern konnten wir nicht frei wählen. Wir bekommen die Karten zugeteilt und müssen lernen, mit dem Blatt in unserer Hand zu spielen. Freundschaftsbande flattern frei im Wind. Und sie sind begleitet von so viel Ausgelassenheit und Lebensfreude. Dann zum Beispiel, wenn sich «meine bunte Bande» für eine Geburtstagsüberraschung ins Trachtengewand stürzt und am Pfäffikersee von farbigen Kühen singt oder im Februar beschliesst, dem Winter mit einer rauschenden Sommernachtsparty einen kräftigen Todesstoss zu versetzen. Das sind die Momente, in denen mir bewusst wird, wie viel Spass das Leben mit ihnen macht und wie viel ärmer ich wäre ohne sie. Meine Freundinnen sind Künstlerinnen, Lebenskünstlerinnen. Sie wissen ein gutes Leben zu führen. Oder wie der französische Philosoph Michel de Montaigne es einst so schön formulierte: «Ich suche nach keiner anderen Wissenschaft als der, welche von der Erkenntnis meiner selbst handelt, welche mich lehrt, gut zu leben und gut zu sterben.»
Gutes Leben, gutes Sterben – wenn es eine Kunst des Lebens gibt, dann muss die Kunst der Freundschaft eng damit verknüpft sein. Doch grosse Freundschaften können auch gefährlich sein. Dann nämlich, wenn Menschen sich hinter ihren Freunden, die sie als stärker, lebenspraktischer und beliebter wahrnehmen, verstecken wie hinter lebendigen Schutzschildern. Grosse Freundinnen haben breite Schultern, hinter denen man sich ducken kann, um nicht hinaus zu müssen, ins Leben, in die Welt. Im ersten Moment ein artfremder Gedanke: Aber gerade von grossen Freundschaften, die das Potential haben, ein Leben lang anzudauern, muss man sich emanzipieren. Einst hatten alle denselben Ausgangspunkt, waren ein formvollendetes Kollektiv. Doch Freundschaft heisst nicht Gleichschaltung. Individuation ist wichtig, für die Einzelperson, und auch für das Fortbestehen der Freundschaft. Erst wenn in einem Freunde-Kollektiv der Einzelne innerlich frei ist, kann man sich auf der gleichen Augenhöhe begegnen.
Man darf sich zu Recht fragen, ob die Freundschaft, als hohe Kunst betrachtet, ein Phänomen vergangener Jahrhunderte ist. «Ich glaube, ich wachse daran», sagt Harry zu Sally. Und Cicero sagt: «Wer die Freundschaft aus dem Leben streicht, entfernt die Sonne aus dieser Welt.» Es gibt nicht viele Dinge im Leben, die vollkommen sind. Freundschaft ist eines davon. Damals wie Heute.
Eduschka - 13. Mai, 11:35
Warum ist die Farbe der Freiheit blau? Blau wie das Meer, das im Sturmwind wogt, blau wie der Himmel, der sich vor uns auftut? Kaktusblüte und ich sind einmal mit einem blauen Kombiwagen losgefahren, über Land, an ein Openair. Es war Sommer, wir waren jung und spürten es vielleicht zum ersten Mal: Das berauschendste aller Gefühle, das Gefühl von Freiheit. Freiheit summt und schwingt, Freiheit ist kraftvoll, gewaltig und mitreissend. Freiheit ist Energie in ihrer Reinstform. «Ein richtiges Fluchtauto!» riefen wir uns gegen den Fahrtwind zu, der durch die offenen Fenster drang. Es hätte kein passenderes Auto geben können für unsere sommerliche Fahrt an ein Musikfest unter freiem Himmel. Mit diesem Wagen über Land zu brausen, das fühlte sich so ungebunden und grenzenlos an, das war sosehr «Thelma and Louise»!
Freiheit und Mobilität sind Geschwister. Lockenkopf hat das neulich so schön in Worte gefasst, als sie in verklärt-nostalgischem Ton meinte: «Früher, auf dem
Töffli, da habe ich mich immer so frei gefühlt!» Oder wenn ich mich an vergangene Fährenpassagen erinnere, im Mittelmeer oder auf der Ostsee, war es da nicht auch dieses Freiheitsgefühl, das mich magisch auf Deck gezogen hat und mich den Horizont betrachten liess? Doch äussere Freiheit ist eine Frage der Umstände, immer ist sie nicht erreichbar. Innere Freiheit jedoch können wir immer erlangen – indem wir sie uns selbst erschaffen. Das wusste auch schon Ella Maillart, die berühmte Schweizer Reisende, die einst sagte: «Die Weite des Horizonts muss in uns sein, darf nur aus uns kommen.» Auch in der griechischen Philosophie sind solche Bemerkungen zu Freiheit zu finden. Epiktet, ein ehemaliger Sklave, soll einst geschrieben haben: «Uns bleibt oft nur das Los der Schicksalsergebenheit, immer aber besitzen wir die innere Freiheit zur Distanz.» Wahre Freiheit kommt immer aus uns selbst. Und nur aus uns selbst.
Und plötzlich erinnere ich mich an das Hochzeitsfoto einer Freundin aus Budapest: Die Braut ganz in Weiss, es liegt Schnee und als Hochzeitskarosse keine Limousine, auch kein Pferdegespann, sondern ein blauer VW-Bus. Obwohl die Eremitin und ich normalerweise nicht viel übrig haben für Hochzeitsfotos, waren wir richtiggehend angetan von diesen Bildern. Im Nachhinein weiss ich auch warum. Der blaue VW-Bus ist eine gute Symbolik für eine Ehe. Mit einem blauen VW-Bus in diesen neuen Lebensabschnitt zu donnern, verspricht, dass sich beide trotz Ehegelübde ihre innere Freiheit werden bewahren können. Etwas Altes, etwas Neues, etwas Geliehenes und etwas Blaues... irgendwie ergibt das plötzlich Sinn.
Eduschka - 28. Apr, 12:16
Offener Abend für LeserInnen und AutorInnen zum
Welttag des Buches
Wann: Freitag, 23. April, 19.30 Uhr
Wo: Zentrum Karl der Grosse, Zürich
Lesungen mit Christine Trüb und Catalin Dorian Florescu
Eduschka - 20. Apr, 12:45
Das Rauchverbot steht kurz vor der Einführung. Zum Wohle aller. Doch in einem rauchfreien Lokal werden wir Frauen um wichtige Indizien geprellt, die Aufschluss darüber geben, ob wir es mit einem Kavalier zu tun haben. Schliesslich kann der Mann uns jetzt keine Zigarette mehr anbieten, und auch Feuer kann er uns nicht mehr geben. Eine Alternative muss her! Ich hätte da auch schon eine Lösung angedacht: Stofftaschentücher. Denn wie heisst es doch so schön in «Vom Winde verweht»:«Nimm ein Taschentuch, Kind. In den wichtigen Momenten deines Lebens hattest du nie ein Taschentuch». Zugegeben: Stofftaschentücher mit Karo-Muster sind etwas aus der Mode gekommen. Doch es ist einfach zu rührend, wenn jemand in seine Hosentasche greift, in aller Ruhe sein Stofftaschentuch entfaltet und herzhaft einen Schneuzer tut. Das ist wie Pfeife rauchen. Oder Steno schreiben. Ein nostalgischer Zeitvertreib, akut vom Aussterben bedroht. Statt der Frau das Feuerzeug hinzuhalten, wird es vielleicht schon bald als galant gelten, ihr ein frisches Stoffnastüechli zu reichen. Schliesslich hat eine Frau fast immer Bedarf an einem Taschentuch. Zum Abwischen von Lippenstift, Schweiss oder Lachtränen. Und sogar ökologisch ist das. Also, liebe Männer, vergesst nie euren Stapel an frisch gewaschenen und gebügelten Stofftaschentüchern, wenn ihr in Eroberungslaune seid. Vielleicht ist das genau die Art von Motivation, die der Männerwelt gefehlt hat, um endlich auch an der Waschküchenfront mit mehr Enthusiasmus dabei zu sein.
Erschienen im Stadtanzeiger, 30. März 2010
Eduschka - 30. Mär, 19:27
Überall wird sie heute benötigt: Unsere Unterschrift. Auf der Post, auf der Einwohnerkontrolle, in der Wechselstube. Man reicht uns den Kugelschreiber und wir klecksen unseren «Chribel» auf die dafür vorgesehene Linie – ungeduldig, gedankenverloren. Über den eigentlichen Akt des Unterzeichnens denken wir selten nach. Bis wir mit unserer Unterschrift plötzlich unser Einverständnis für ein folgenschweres Ereignis geben müssen. Den Mietvertrag für die erste eigene Wohnung unterschreiben. Ein Kind adoptieren. Vor den Blicken der versammelten Gästeschar den Ehevertrag unterzeichnen. Grosses Kino. Jetzt ist es kein «Chribel» mehr, sondern ein sauberes, gleichmässiges, wohl proportioniertes Autogramm, bei dem man ja nichts falsch machen möchte. Kein Bogen am falschen Ort platzieren, kein Schlenker, kein Schmieren. Weder «stolz» noch «erhaben» taugen etwas als Beschreibung für diese Kategorie von Gefühl.
Andere Unterschriften hingegen müssen wir uns buchstäblich abringen. Wir setzen sie mit einem grossen innerlichen Stossseufzer. Den Kündigungsbrief unterschreiben. Die Einwilligung für eine lebensrettende Operation geben. Das Anmeldeformular fürs Altersheim unterzeichnen. Hat man seine Unterschrift einmal unter das Dokument gesetzt, gibt es kein Zurück. Überall müssen wir bezeugen, dass das, was passieren wird, gemäss unserem Willen geschieht. Dabei wissen wir ja noch gar nicht, ob es tatsächlich gemäss unserem Willen geschehen wird. Eine Willensbezeugung ist schnell gemacht, eine Unterschrift rasch gesetzt, aber «bis der Tod Euch scheidet» muss auch im Alltag gelebt werden, und woher sollen wir wissen, ob dem Chirurg ein guter Tag mit einer ruhigen Hand bevorsteht? Mit unserer Unterschrift müssen wir auch für alles Unvorhergesehene gerade stehen. Und was ist das Leben anderes als ein Hort des Unvorhergesehenen? Das Beständigste in diesem Wirrwar an Gefühlen ist da vielleicht noch unsere eigene Signatur, denn sie bleibt über Jahrzehnte hinweg dieselbe. Egal, was uns widerfahren mag – unsere Unterschrift steht einfach da, schwarz auf weiss, und schert sich nicht um Bedeutungen. Wie wohl ihre Abgeklärtheit uns tut.
Eduschka - 24. Mär, 10:55
Kindheit im Tränenmeer
Jungsein zwischen Schlaraffenland und Marterpfahl
Wahre Freunde, welch Glück
Liebessehnsucht verzehrt
Sprung vom 10-Meter-Brett
O Wunder der Veränderung!
Aus zwei Leben entsteht etwas Drittes
Es märzt.
Eduschka - 11. Mär, 00:24