Jeder, der bei mir eine kurze Rast einlegt, ist auf der Durchreise. Bei mir können die Reisenden für einen kurzen Augenblick innehalten und verweilen, sich eine Atempause gestatten, um kurze Zeit später wieder aufzubrechen, an den Ort ihrer Bestimmung. Die Gründe für ihre Reisetätigkeit sind äusserst vielfältig: Manche reisen aus geschäftlichem oder familiärem Anlass, andere aus Liebe, für andere ist Neugierde und Abenteuerlust Hauptantriebskraft. Nicht wenige erhoffen sich an einem anderen Ort ein besseres Leben. Ganz besonders freut es mich da, wenn jemand eine Reise unternimmt um der Freundschaft willen. Denn gute Freunde im Ausland zu besuchen – egal wo auf der Welt – ist meiner Meinung nach der nobelste aller Gründe zu reisen.
So wie Evelin Rinderknecht, mit der ich heute Bekanntschaft gemacht habe. Ihre Freunde leben seit Jahren in Bangkok. Die Wartezeit bis zum Abflug wollte sich die ältere Dame mit einer guten Tasse Grüntee verkürzen. «Wissen sie, ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, jeden Tag eine Tasse Grüntee zu trinken», verrät sie mir und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu: «Das mache ich seit vierzig Jahren. Heute bin ich 75 Jahre alt und noch immer kerngesund.» Die Dame ist in Plauderlaune. Als ich ihr den Weg zum nächsten Restaurant mit Grüntee zeigen will, hört sie gar nicht hin und beschreibt mir stattdessen ihr gewohntes Bangkok-Programm: «Das Flugzeug setzt am Morgen in aller Frühe auf thailändischem Boden auf. Sobald ich die Einreiseformalitäten erledigt habe und meine Koffer vom Band gefischt habe, nehme ich mir ein Taxi und fahre zum Klub. Dort spiele ich für den Rest des Tages Bridge.» Ich stelle mir die alte Dame vor, wie sie in einem Salon im Kolonialstil um den Bridge-Tisch sitzt, und muss unvermittelt lächeln. Der Deckenventilator im abgedunkelten Raum dreht unermüdlich seine Runden, die tropische Hitze macht sogar die Stubenfliegen träge. Nur die lebhafte Alte in ihrem grasgrünen Kostüm und dem sorgfältig nachgezogenen Lippenstift – immerhin hat sie gerade einen zwölfstündigen Flug hinter sich – wirkt noch so taufrisch wie aus dem Modekatalog. Und mit dem Gin Tonic-Glas in der einen, und den Bridge-Karten in der anderen Hand feiert sie lautstark jeden errungenen Sieg.
Wenn dann um halb sieben die Dämmerung über die Millionenstadt hereinbricht, setzt sich die Dame wahrscheinlich in den Drawing room und gestattet sich mit ihren Freunden eine Kleinigkeit zu Essen. Aus Freude über das Wiedersehen wird wahrscheinlich eine gute Flasche Rotwein entkorkt. Im Kreise von Freunden, diese Erfahrung ist universell, schmeckt der Wein ganz besonders mundig und das Zirpen der Grillen kann leicht einen verheissungsvollen Klang annehmen. Die Stunden vergehen wie im Flug, bei so vielen Wochen des Getrenntseins hat man sich ja auch viel zu erzählen! In Nächten wie diesen, da tanzt der Geist, auch wenn es der Körper nicht mehr zulässt. Im Gespräch schwingt man sich gegenseitig zu neuen Höhen auf, lacht, tauscht Erfahrungen aus, bringt sich gegenseitig auf noch nie gedachte Gedanken. Und wenn man dann im ersten fahlen Licht des anbrechenden Tages todmüde ins Bett fällt, ist man einfach nur noch überglücklich.
Obwohl reisen immer mit Anstrengungen verbunden ist, nehmen wir den weiten Weg zu einem guten Freund mit einem Lächeln kauf. Nie ist es uns leichter gefallen, aufzubrechen. Nie haben wir weniger gezögert. Weil wir wissen, dass die Zeit, die wir mit diesem feinen Mensch verbringen werden, unschätzbar kostbar ist für uns und durch kein Geld der Welt aufzuwiegen. In der Liebe hingegen ist das anders. Liebesbeziehungen werden heute über kulturelle und geografische Grenzen hinweg eingegangen, Liebesgeständnisse reisen via E-Mail, Handy und Internet innert Hundertstelsekunden über die sieben Weltmeere. Unsere Zeiten scheinen mit den neuen Kommunikationskanälen geradezu dafür gemacht, der Liebe eine weitere Dimension zu geben. Wer sich sehnt, fühlt intensiver. Doch dieses sich-nacheinander-verzehren kann kein Dauerzustand sein, irgendwann muss es ein Ende haben, eine Paarbeziehung braucht die Perspektive, den Alltag. Man lebt von Begegnung zu Begegnung; unentwegt herrscht der Ausnahmezustand. Und liegen sich die Liebenden dann endlich in den Armen, beginnt auch schon wieder die lähmende Angst vor der Stunde des Abschieds von ihnen Besitz zu ergreifen. Es ist ein ständiger Wettlauf gegen die Zeit.
Liebe ist die Schnittmenge zweier Lebensrealitäten. Zu lieben bedeutet, sich zu bekennen. Zu einer Person. Einer Herkunft. Einer Kultur. In einer Freundschaft hingegen ist man viel freier in seiner Entscheidung, welche Elemente, die der Freund repräsentiert, sich ins eigene Leben integrieren lassen. Die ältere Dame wurde damals wahrscheinlich von ihren thailändischen Freunden ins Bridge-Spiel eingeführt. Und auch die Tatsache, dass Grüntee gesund ist und das Wachstum von Krebszellen hemmen kann, hat sie vermutlich von diesen Freunden zum ersten Mal gehört. So konnte sie diese zwei lieben Gewohnheiten in ihren Lebensalltag integrieren, ohne deswegen gleich zum Buddhismus zu konvertieren oder den thailändischen König mit blindem Eifer zu verehren. Das Trennende ist in einer Freundschaft genauso selbstverständlich wie das Gemeinsame. In einer Paarbeziehung hingegen wird das Trennende immer gleich als beziehungsgefährdend eingestuft. Es erfordert viel Hingabe und Geduld von beiden Seiten, Gräben aufzufüllen und Brücken zu errichten. In einer transkontinentalen Freundschaft hingegen kann man ganz zwanglos ein kultureller Hybrid werden.
Freunde und Ausland – meiner Meinung eine hinreissende Kombination. Auch deshalb, weil eine Freundschaft eine kulturelle Innenansicht liefert, die man in keinem Reiseführer der Welt findet. Das ist horizonterweiternd, ohne im Geringsten einzuengen. Auf eine sehr leichte, unbekümmerte Weise erhält man so einen tiefgreifenden Einblick in die Kultur des anderen, ähnlich dem Blick durch ein Kaleidoskop. Die einzelnen Muster vermischen sich ineinander und lassen so ein neues, viel komplexeres Gebilde entstehen. Verallgemeinerungen lässt man schnell hinter sich, um sich auf einer viel persönlicheren Ebene zu begegnen. Man nimmt den fremden Ort durch die Linse des Freundes wahr – und dadurch scheint er gleich nicht mehr so fremd. Wir fühlen uns dem fremden Land, der fremden Stadt plötzlich zugehörig, weil der Freund uns ein Gefühl von Heimat, von Geborgenheit geben kann. Auch die Bridge-Spielerin betrachtet Bangkok mittlerweile wahrscheinlich ein bisschen als ihre zweite Heimat. Weil sie Freunde hat in diesem Teil der Welt, ein Sicherheitsnetz. Ein emotionales Backup.
Eine metallische Stimme erklingt aus den Lautsprechern: «Frau Evelin Rinderknecht, bitte begeben Sie sich umgehend zum Ausgang E53.» Meine Bridge-Spielerin fährt zusammen. «Das bin ich!» Schnell rafft sie ihre Siebensachen zusammen. «Ihr Ausgang ist gleich dort vorne», beruhige ich sie. «Ich wünsche Ihnen eine gute Reise». Und in ihrem grasgrünen Kostüm eilt sie davon, auf ins nächste Abenteuer. Ich schaue ihr nach, wie sie im Fingerdock verschwindet, die Dame von Welt in ihrem grasgrünen Kostüm, mit ihrer Vorliebe für grünen Tee. «Manche Menschen haben einfach ein Talent für ein Leben Ton in Ton», denke ich und lächle.
Eduschka - 25. Feb, 20:01
An manchen Tagen vergeht mir die Lust, am Stand zu stehen und auf Käuferschaft zu warten. Dann will ich nicht an Ort und Stelle verharren, sondern in Bewegung sein, mit Menschen in Beziehung treten, einen Augenlidschlag lang Hansdampf in allen Gassen sein. Und so löse ich die Schnüre meiner Schürze und begebe mich auf einen Streifzug durch den Flughafen. Ich durchwandere die Sitzreihen und schaue den Passagieren in der Transithalle beim Warten zu, ich bummle durch den Duty Free, plaudere mit dem netten Sicherheitsbeamten mit den schönen blauen Augen, fahre Sky Metro oder stibitze in der Lounge ein paar Cashewnuts... der Flughafen wird zu meiner ganz persönlichen, überdimensionalen Spielwiese.
Manchmal, wenn gerade ein Langstreckenflieger angedockt hat, bleibe ich für einen Moment stehen und schaue dabei zu, wie die Gatetüren sich öffnen und die Passagiere herausströmen. Dann stelle ich mir vor, woher diese Menschen kommen und was der Grund für ihre Reise sein mag. Das ist ein besonderer Moment, denn ich weiss, dass ich der Welt, der sie gerade entschwunden sind, näher nicht mehr kommen kann – es sei denn, ich fliege selber hin. Ich befinde mich hier an der äussersten Grenze. Wenige Stunden zuvor, am Abflugsort, wurde die Kabinentür hermetisch verriegelt und hier, am Ziel der Reise, schwingt sie wieder auf und spukt Passagiere aus, die zielstrebig Richtung Ausgang strömen. Der Geruch der anderen Welt haftet ihnen noch an den Kleidern, an der Haut. In diesem Moment ist die fremde Welt für mich zum Greifen nahe, sie liegt buchstäblich in der Luft. Ich halte einen Moment inne und atme den Geruch durch meine Nasenlöcher ein – es ist der Duft der grossen weiten Welt.
Ich muss nie fragen, woher ein Flugzeug kommt. Die Duftfahne, die mir aus dem Fingerdock entgegen weht, erzählt es mir. Kommt ein Flugzeug zum Beispiel aus Indien oder der arabischen Welt, ist ein würziger Geruch vorherrschend. Er verrät mir, dass die Menschen dort an scharfes Essen gewöhnt sind. Kommt ein Flugzeug aus dem Balkan, legt sich eine rauchige Duftnote wie ein Schleier über die Köpfe der Passagiere, der mir verrät, dass die Menschen dort noch auf offenem Feuer kochen. Bei Flugzeugen, ankommend aus den Vereinigten Staaten, steigt mir ein undefinierbarer, chemischer Geruch in die Nase, der mich ein bisschen an Erdbeertörtchen erinnert. So hat jede Destination ihren ganz eigenen, unverwechselbaren Geruch.
Nachdem alle Passagiere ausgestiegen sind, geht die Crew von Bord. Engelsgleiche Gestalten, adrett uniformiert, hinterlassen eine süssliche Parfümwolke, betörend und prachtvoll, wuchtig und schwer – und übertünchen die Duftschwaden des «Destinations-Geruchs», der eben noch in der Luft gelegen ist. Düfte lösen praktisch wie auf Knopfdruck Gefühle in uns aus. Diese enge Verwandtschaft ist kein Zufall: Dufterinnerungen werden im Gehirn am selben Ort verarbeitet und abgespeichert, wo auch die Emotionen sitzen. Besonders augenfällig ist das bei Gerüchen, die eng mit Erinnerungen verknüpft sind: Der Geruch von Karamelbonbons ruft blitzartig Bilder der Grossmutter wach, der Duft der alten Ledermappe beschwört Erinnerungen an die Schulzeit herauf. Nichts ist so individuell wie unser Duftgedächtnis. Und so hat jeder von uns mit der Zeit seine ganz eigene, individuelle Duftlandkarte, die sich in seiner Seelenlandschaft festsetzt. Wir können einen Geruch selbst dann noch mit einem Gefühl verbinden, wenn bereits Jahrzehnte zurückliegen, seit wir ihn zum letzten Mal bewusst wahrgenommen haben.
«Die Nase ist eigentlich ein völlig passives Organ», hat mir Pablo gestern erzählt. «Doch mit ein bisschen Training kann sie jeder in Marathon-Form bringen.» Er muss es wissen, denn Pablo war früher gefeierter Parfumeur, bevor er sich darauf beschränkte, Parfüms nur noch zu verkaufen, statt sie selber herzustellen. An diese Unterhaltung muss ich jetzt zurückdenken, als ich an der Gatetüre stehe, lächelnd, und all die schönen Flugbegleiterinnen herausströmen sehe. Pablos Parfümstand im Duty Free Shop grenzt direkt an meinen. Ich finde, er hat den schönsten Job der Welt. Schliesslich sorgt er dafür, dass die Welt duftet – und schenkt ihr damit einen bunten Blumenstrauss voller Emotionen. Pablo hingegen ist nicht so ganz meiner Meinung. «Rosaly-Schätzchen», sagt er dann, «du bist hier diejenige, die die grossen Gefühl an die Wand malt. Schau dir das Leuchten in diesen Kinderaugen an, wenn sie mit dem Eis in der Hand deinen Stand verlassen.» Vielleicht hat er ja Recht. Pablo liebt Kinder und es fällt ihm schwer, sich mit der Tatsache abzufinden, dass es mir mit der Eiscrème so spielend gelingen will, die Kinderherzen gleich reihenweise zu erobern.
Doch Eiscrème-Expertin zu werden ist leicht. Es genügt vollauf, ein Schleckmaul zu sein. Bei Parfums ist das anders. Das Handwerk des Parfumeurs erscheint mir manchmal wie eine Geheimwissenschaft, wie das Verwandeln von Blei in Gold. Mit seiner Pipette in der Hand tüftelt der Parfumeur an seiner neusten Kreation, schraubt an Kopf-, Herz- und Basisnote herum, fügt hier ein bisschen Beere hinzu und nimmt dort eine Prise Moschus weg... Parfumeure müssen unglaublich feinfühlige Menschen sein. Die Beschäftigung mit Gerüchen muss fast zwangsläufig ihre Aufnahmefähigkeit für das Fühlen verstärken. Weltweit soll es nur 2000 Parfumeure geben. Als ich so darüber nachdenke, nehme ich mir vor, auch meine Nase auf Marathon-Form zu bringen. Vielleicht wird mir Pablo dabei helfen können? Gestern hat er ungewollt gleich selber den Anfang dafür gemacht. «Rosi, ist dir schon mal aufgefallen, dass auch japanischen Babys ganz anders riechen als unsere?», fragte er mich, nachdem er eine japanisch aussehende Kundin fertig bedient hat. Ich bin gerade damit beschäftigt, die Cornettos aufzufüllen. «Nein. Wie denn?» – «Irgendwie nach Bananen.»
Eduschka - 25. Feb, 18:45
In der italienischen Kaffeebar, wo ich am Morgen meinen Kaffee hole, ist mir heute eine Zeitung aufgefallen, die ausgebreitet auf einem der Gästetische lag. Sie sah ziemlich mitgenommen aus, die Ränder voll gekritzelt, mit einem dicken Flizschreiber waren Wohnungsinserate eingekreist, braune Kaffeetassenflecken zeichneten ein Muster ins Papier. Unvermittelt musste ich an die Werbung der indischen Kaffeehauskette «Cafe Coffeedays» denken. «A lot can happen over coffee»; viel kann passieren über einer Tasse Kaffee. Man sieht eine Wohnung ausgeschrieben, findet eine neue Stelle oder einen neuen Partner und kann ein neues Kapitel seines Lebens aufschlagen. Was bei der Zeitungslektüre nie fehlen darf ist eine richtig schöne, heisse, dampfende Tasse Kaffee, ein Muntermacher, der einem den nötigen Energieschub für einen neuen Tag und damit für neue Plänen verleiht. Eine gute Tasse Kaffee kann den schlimmsten Tag erträglich machen, einen Moment des Nachdenkens verschaffen oder eine Romanze wieder aufleben lassen. (Pendergrast, S. 15) Kaffee trinken ist weit mehr als purer Genuss. Kaffee trinken ist ein Lebensgefühl.
Diese Gedanken begleiten mich heute durch den Tag, und soeben wurde ihnen durch ein nettes Vorkommnis noch eine zusätzliche Dimension verliehen. Mauro möchte mit mir Kaffee trinken gehen! Innerlich habe ich gejubelt, als er mich gefragt hat, gegen aussen jedoch blieb ich die Ruhe selbst und tat ein bisschen so, als wäre ich gerade furchtbar beschäftigt. Ich darf also an dieser Stelle festhalten: Heute ist der Tag meines Eisprungs (rechte Eicherstocksteite), ich trage meine heiss geliebten braunen Wildlederstiefel und in einer halben Stunde bin ich zum Kaffeetrinken verabredet.
«A lot can happen over coffee», zum Beispiel bei einem werbenden Pärchen. Das Bindemittel ist der Kaffee, und gleichzeitig kaschiert er auch die Verlegenheit. Schliesslich kann man sich an einer Kaffeetasse festhalten, und sollte es zu allzu starken Gefühlen der Verlegenheit kommen oder im Gegenteil zur grossen Ernüchterung, kann man das Treffen eine Kaffeepausenlänge später abbrechen und wieder zum Alltag übergehen, als wäre nichts geschehen. Aber nicht nur in der Liebe, auch in allen anderen Beziehungen zwischen Menschen spielt der Kaffee eine bedeutende Rolle: Wer liebt es nicht, nachmittags mit einer guten Freundin im Café zu sitzen und vor einer grossen Tasse Capucchino über das Leben zu philosophieren?! Es ist unbestritten: Kaffee hat eine soziale Bedeutung. Und während Tee vor allem tröstet, regt Kaffee uns an, er ist ein sozialer Stimulator. Der Kaffeetratsch oder das «Kaffeekränzchen» mag für uns eher etwas Weibliches sein, doch wirft man einen Blick in die Geschichtsbücher, stellt man fest, dass vor allem Männer einst dem schwarzen Gebräu zugeneigt waren. Kaffee ist ein gesellschaftliches Bindemittel, ein Zungenwärmer, ein Gedankenernüchterer, ein Anregungsmittel für den Geist und, wenn man möchte, ein Abwehrmittel gegen den Schlaf. (Pendergrast, S.?)
Der Ursprung des Kaffees geht nach Afrika zurück, nach Äthiopien, um genau zu sein. Über den Suezkanal kam die Kaffeekirsche in die arabische Welt. Dort wurde der Kaffee «Qahwa» genannt, ein arabisches Wort für Wein. Mit seiner steigenden Popularität entstanden bald die ersten Kaffeehäuser. Noch heute sind die Kaffeehäuser in der arabischen Welt eine Institution. Reinhard Hesse, «Merian»-Reporter, fasst es folgendermassen in Worte: «Sie sind weit mehr als ein Ort des Zeitvertreibs, wo Araber Kaffee trinken, Pfeife rauchen und Backgammon spielen. Ein Kaffeehaus in Kairo ist zugleich Büro, Informationsbörse, literarisch-politischer Salon, Ankerpunkt der Menschen im grossstädtischen Mikrokosmos sowie Arbeitsplatz für allerlei fliegende Händler und Dienstleister.»
Auf dem Weg zu Mauro und meiner Lieblingskaffeebar überrumpelt mich eine plötzliche Gewissheit: Bei einer Tasse Kaffee ist in der Geschichte sehr viel mehr passiert, als ein paar zaghafte Werbungsversuche zwischen den Geschlechtern jemals ausrichten können. Über Kaffee wurden soziale Aufstände organisiert, Gedichte verfasst, ja über Kaffee wurde die Welt aus den Angeln gehoben! Die Werbung «A lot can happen over coffee» erhält so nochmals eine ganz andere, viel weitreichendere Bedeutung. Als ich am verabredeten Ort eintreffe, sitzt Mauro schon dort und liest. Er sieht friedlich aus, sein Profil wird von der Sonne beschienen. Für einen Moment halte ich inne und labe mich an seinem Anblick. Dann betrete ich das Café, küsse ihn auf die Wange und bestelle mir einen dieser schaumigen Cappucchinos in diesen bauchigen Tassen. Das fühlt sich so richtig gut an.
Ob es wohl am Koffein liegt, oder ob da noch andere Faktoren eine Rolle spielen, ist ungewiss. Fest steht, dass der Kaffee tatsächlich schon immer als eine Art Katalysator diente, um Veränderungen herbeizuführen. Die Kaffeehäuser boten Platz, um Revolutionen zu planen, Gedichte zu schreiben, Geschäfte abzuschliessen und Freunde zu treffen. (Pendergrast, S. 16) In «All about coffee» hat William Ukers 1935 geschrieben: «Wo auch immer er [der Kaffee] eingeführt wurde, bedeutete er Revolution. Er war das radikalste Getränk der Welt, weil seine Funktion stets darin bestand, die Menschen zum Denken zu bewegen.» Da erstaunt es nicht, dass in der arabischen Welt sowie in Europa die herrschende Elite mehrmals versucht hat, den Kaffee als «Ursache revolutionären Aufruhrs» zu verbieten. Doch durchsetzen liess sich ein solches Gesetz nie.
Es scheint fast so, als hätte der Kaffee schon immer mehr Freunde als Feinde gehabt. «So viel Geschrei um ein bisschen schwarze, bittere Brühe», denke ich, als ich nach dem Kaffeetrinkdate mit Mauro an meinen Stand zurückkehre. «Dabei handelt es sich doch eigentlich nur um den Fruchtkern eines äthiopischen Strauchs», hatte Mauro ganz richtig bemerkt. Über meine genaue Sachkenntnis, welcher Kaffee wo am Flughafen am Besten schmeckt, konnte er sich sehr amüsieren. Dabei bildeten sich ganz kleine, feine Lachfältchen um seine Augen. «Ich weigere mich einfach standhaft, Pfützenwasser zu trinken!», brachte ich zu meiner Verteidigung hervor. Und fügte mit dem Brustton der Überzeugung hinzu: «Das Leben ist einfach viel zu kurz für schlechten Kaffee.»
Wo sich ein angenehmes Denk-Klima herausbildet, zieht es auch eine andere Gruppe Menschen hin: Philosophen, Literaten und Intellektuelle. In Wien wurde der Kaffee innerhalb weniger Jahrzehnte zum Treibstoff für das intellektuelle Leben der Stadt, in Grossbritannien wurden die Kaffeehäuser als «Pfenniguniversitäten» bekannt, weil man für diesen Preis eine Tasse Kaffee bekam und dabei stundenlang aussergewöhnlichen Unterhaltungen lauschen konnte. (Pedergrast, S.31) Die Theorie auf die Spitze treibend, kann man sagen, dass die Cafés ein solch wunderbares intellektuelles Klima erzeugten, was letztendlich die französische Revolution hervorbrachte. Und es bestreitet wohl niemand, dass die französische Revolution mit ihrem Leitsatz von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit so etwas wie die Wiege unserer demokratischen Kultur ist. Hauptkatalysator für eine solche tiefgreifende, gesellschaftliche Reform war nichts anderes als eine Kaffeekirsche von einem äthiopischen Strauch! Das gefällt mir. Man sollte die Bedeutung des Kaffees in der Geschichte niemals unterschätzen.
Doch was ist in Zeiten von «Starbucks» davon geblieben? Der «Starbucks»-Kult hat wieder andere Menschen hervorgebracht, die sogenannten «globalen Nomaden», die überall auf der Welt zu Hause sind, und von überall aus arbeiten können. Alles, was sie dafür brauchen, ist eine Steckdose und einen Internetanschluss. Sie sind Projektarbeiter; sie arbeiten, wie sie leben und sie leben nicht, wie sie arbeiten. Im «Starbucks», dem Kaffeehaus der Moderne, profitieren sie von diesem geistig anregenden Klima und doch ist jeder letztendlich ganz für sich allein. Vielleicht hat die globale Vernetzung übers Internet die Versammlungsmentalität der Kaffeehäuser überflüssig gemacht. Im «Starbucks» lebt dieses geistige Klima dennoch irgendwie weiter, wenn auch viel kommerzialisierter. Und doch findet man sie überall auf der Welt, sobald man einen «Starbucks» betritt: Menschen an ihren PC's, die aussehen, als würden sie mit ihrem Apple Mac gerade die Welt revolutionieren. Sie sind die geistige Elite der Neuzeit, die Descartes und Sartres des 21. Jahrhundert. Ob sie dabei nur so tun, als wüssten sie die Antworten, während sie in ihre Bildschirme starren, wird immer ein Geheimnis bleiben. Denn das ist ja gerade das Faszinierende am Kaffee: Beim Kaffeetrinken kann von fast nichts bis fast alles geschehen. Kaffee ist wie das Leben selbst, er enthält die ganze Bandbreite. Und manchmal, manchmal bleibt auch ein bitterer Nachgeschmack zurück. Ich habe ein Mittel gefunden, das zu vermeiden: Meistens lasse ich den letzten Schluck ganz einfach in der Tasse stehen. Und was Mauro betrifft: Das Kaffeetrinkdate war schön. Vielleicht wiederholen wir es bei Gelegenheit.
Zumindest wird er sich nicht genötigt fühlen, sein Kaffeegenuss auf so kreative Art und Weise rechtfertigen zu müssen wie die britischen Männer im 17. Jahrhundert. Damals fürchteten die Frauen nämlich um den Sittenzerfall ihrer Männer und hätten die Kaffeehäuser gern geschlossen gesehen. Die Männer jedoch meinten, der Kaffee sei weit davon entfernt, sie impotent zu machen, er mache Kaffee die Erektion kraftvoller, die Ejakulation gehaltvoller und füge dem Sperma eine geistige Komponente hinzu...
Quellen:
Kaffee. Wie eine Bohne die Welt veränderte. Mark Pendergrast. Edition Temmen.
«Genuss des Müssiggangs». Reinhard Hesse. In: Merian. Ägypten. August 2001
Eduschka - 24. Feb, 17:53
"Kugelbomben und Kaffee" in der Gemeindebibliothek Dinhard
mit Kaffee und Kuchen
25. Januar 2010, 19.30 und 20.30 Uhr
Eduschka - 25. Jan, 10:53
Prolog
Der Ort, aus dem ich komme, ist ein fruchtbarer Ort: Im Frühling blüht der Raps in einem knalligen gelb, im Sommer steht für einige Wochen der Weizen auf dem Feld, dessen Ähren sich sachte mit dem Wind hin und her bewegen, die unasphaltierten Fahrstrassen, auf denen ich dahinradle, werden von fröhlichen Sonnenblumenfeldern gesäumt. Im Herbst, wenn morgens bereits die ersten Nebelfelder vom Fluss heraufziehen, arbeiten die Bauern auf dem Feld oder in den Reben, die Kartoffeln müssen aus dem Boden und die Weintrauben in die Flasche. Ganz zum Schluss der Erntezeit kommen die Zuckerrüben, riesige Berge von ihnen ragen vom Boden auf und werden in etlichen Ladungen zur nahen Fabrik gefahren. Den ganzen Winter über spucken die Schlote der Zuckerrübenfabrik weissen Rauch aus, der einen eigenartigen Geruch, einen Geruch der Verwesung, verströmt.
Es gibt Ortschaften, die wir bewohnen. Und es gibt Orte, die in uns wohnen. Da könnte es doch sein, dass der Ort, an dem wir aufwachsen, prägend ist für den weiteren Verlauf unserer Entwicklung, ja unseres Lebens. Was für ein Mensch wäre ich wohl heute, wenn ich nicht in einem Rebanbaugebiet mit mildem Klima, sondern in einer Grossstadt wie Zürich oder Genf oder einer Millionenstadt wie Sao Paolo oder Tokio geboren und aufgewachsen wäre? Die Landschaft, die uns umgibt, während wir in diese Welt hineinwachsen, setzt sich in unserer Seele fest, sie prägt uns für immer – ob wir das möchten oder nicht.
Menschen widerspiegeln mit ihrem Wesen den Charakter der Landschaft, die sie bewohnen. Deshalb sagt man den Bergleuten etwas Raues, Herbes nach – überall auf der Welt. Ein Tal in den Schweizer Alpen, wo im Hochwinter einen Monat die Sonne nicht hinkommt oder ein Küstenstädtchen am Meer mit freiem Blick auf den Horizont kann nicht den gleichen Schlag von Menschen hervorbringen.
Und aller Wahrscheinlichkeit nach werden diese Menschen einen ganz unterschiedlichen Zugang haben zum Thema Grenzen. Ein Bergler wird sich wahrscheinlich am Meer nicht besonders wohl fühlen. Diese grenzenlose Weite des Horizonts scheint ihn zu verschlingen, schwimmen hat er vielleicht nie richtig gelernt, für ihn hat das Meer etwas Todbringendes. Er weiss nicht, was in diesen Untiefen des Wassers noch alles lauert, er hat Angst vor Unterströmungen. Der Flachländer hingegen wird sich wahrscheinlich in den Bergen nicht besonders wohl fühlen, dieses viele Weiss des Schnees wirkt todbringend auf ihn, er hat Angst, den Boden unter den Füssen zu verlieren und fürchtet sich vor Lawinen. Die Schatten, die die nahen Berge werfen, machen ihm Angst.
Jeder Ort hat eine ganz bestimmte Atmosphäre, erzeugt eine gewisse Stimmung in uns. Fühlen wir uns an einem Ort nicht wohl und können wir doch nicht genau sagen weshalb, liegt es oftmals an der Grundstimmung des Ortes, der so gar nicht im Einklang ist mit unserer eigenen seelischen Grundstimmung. Vielleicht hat es nicht nur mit der Landschaft allein zu tun, sondern auch mit der Geschichte des Ortes. Auf einer Vietnam-Reise stellte ich fest, dass dieses Land aus irgendeinem Grund eine ganz eigenartige Melancholie ausstrahlt, die ich mir eigentlich nur mit seiner kriegsgeschüttelten Vergangenheit erklären konnte. Als Kind haben wir dieses Gefühl vielleicht «Heimweh» genannt, aber eigentlich trifft es das nicht. Es ist eher ein Gefühl der Entfremdung, ein Gefühl, nicht «bei sich» zu sein, aus dem Tritt zu sein. Dann krampft sich unser Inneres zusammen und wir möchten nur noch weg. Graue Vorstädte mit schnurgeraden, nie enden wollenden Strassen... schnell weg!
Aber natürlich gibt es auch die anderen Orte. Einladende Orte, die auf uns wirken wie lächelnde Freunde, die uns nach einer langen Reise Willkommen heissen. Den schönen, den ursprünglichen Orten entstammen nicht selten auch Menschen, die sich beruflich mit Schönheit befassen: Maler, Bildhauer, Schriftsteller. Oder Sänger. Die britische Sängerin und Brit-Award-Gewinnerin Duffy kommt aus einem kleinen walisischen Dorf direkt an der Küste. Wegen ihres Berufes heisst sie im Dorf nur «Duffy Cantoress», also «Duffy, die Sängerin». Nefyn hat gerade mal 2500 Einwohner, abends trifft man sich im einzigen Pub des Dorfes. Was Musik und Mode angeht, lebe man in Nefyn ein bisschen hinter dem Mond, lässt sich die Sängerin zitieren, «dafür ist die Landschaft sehr schön. Grüne Hügel, viele Seen und natürlich das Meer.»
Duffy als Beispiel einer Künstlerin, die auf dem Land lebt, ist nur eines unter vielen. Aber ihres ist, wie ich finde, ganz besonders charmant. Und es öffnet Räume für neue Gedanken: Warum leben so viele künstlerisch tätige Menschen in ländlicher Umgebung? Kann sich unser Geist erst dann zu neuen Höhen aufschwingen, wenn wir den Horizont sehen können und nachts die Sterne? Welchen Einfluss hat die Stille? Und die Spuren von Katzenpfötchen im Schnee? In der Stille – in der Einkehr - sind wir eher dazu gezwungen, uns auf uns selbst zu besinnen. In der Stadt werden wir abgelenkt, wir haben Unterhaltung, Abwechslung, das Leben ist schnell und flüchtig. Auf dem Land kommt der Mensch zur Ruhe, er wird gezwungen hinzuhören, auf seine eigene, ganz individuelle Stimme, die aus seinem Innern aufsteigt. Ich frage mich, was für eine Qualität es für die Menschen hat, Vogelgezwitscher zu hören oder die Sterne zu sehen. Es geht um dieses Ursprüngliche. Gleichgültig wie viel die Natur uns bedeutet: Wir alle sollten von Zeit zu Zeit Zeuge davon werden, wie die Sonne aufgeht und ein neuer Tag anbricht. Weil es so etwas Ursprüngliches ist. Weil es darauf hindeutet, woher wir kommen und wohin wir im Begriff sind zu gehen. Und nicht zuletzt, weil es uns erdet.
Ist es wirklich nur ein Zufall, dass auch so grosse Denker wie Gandhi, der indische Freiheitskämpfer, aus einem ganz kleinen Ort kamen? Gandhi stammte aus einem kleinen Küstendorf am arabischen Meer und stieg in die Weltpolitik auf. Vielleicht fällt es in der Ruhe und Abgeschiedenheit einer Landschaft, die noch nicht von Menschenhand gezeichnet ist, leichter, unabhängig zu urteilen und innere Freiheit zu erlangen. Wie ein roher Diamant kann ein Charakter in der Ursprünglichkeit einer Landschaft abgeschliffen werden, weil es nichts gibt, was diesen Prozess beeinträchtigen könnte. Vielleicht sind es aber auch zwei sich eigentlich zuwiderlaufende Eigenschaften, die einen Menschen gross machen können: Mit den Füssen tief in der Erde verwurzelt. Und mit dem Geist hoch oben in den Wolken zu Hause.
Epilog
In Zeiten, in denen Menschen in Südafrika geboren werden, in Bolivien aufwachsen und in Kanada sesshaft werden, weist die Geschichte meiner Familie eine eigentümliche Stabilität aus: Weder meine Grosseltern noch meine Urgrosseltern haben es geschafft, über ihre Rebberge hinauszukommen. Aber das Leben ist gut hier. Die sanften Hügelzüge, die die Landschaft prägen, machen die Menschen sanftmütig und gütig. Dennoch sind sie kräftig und stabil, nichts wirft sie so leicht aus der Bahn. Ungefähr so wie der mächtige Walnussbaum vor dem Haus unserer Nachbarn. Das ganze Dorf hat getrauert, als er gefällt werden musste. Die Leute hier sind wie Bäume, sanfte Bäume. Sie sind einfach da, darauf kann man sich verlassen. Vielleicht hatte es ja einen Grund, dass meine Vorfahren nicht weit gekommen sind. Sie waren ganz einfach klug genug zu wissen, dass es kaum einen Ort geben kann, der schöner ist als dieser.
Eduschka - 15. Jan, 12:47
Bambus und Stofftaschentuch. Vielleicht sind das die Stoffe der Stunde. Bambus als schnell nachwachsender Rohstoff gilt als ökologisch, und die Stofftaschentüchern mit den karierten Mustern sind vielleicht etwas aus der Mode gekommen, aber deswegen nicht weniger ökologisch. Denn gibt es etwas Ökologischeres, als seine eigenen Tränen zu recyceln? Tränen, oder wahlweise Rotz, Popel oder was sonst noch in so ein Taschentuch kommt. Einmal hatte ich das Vergnügen, in den Zipfel eines Stoffnastüechlis zu schneuzen, das ein guter Freund mir gereicht hat. Wenn das nicht wahre Freundschaft ist!
In dieser Hinsicht kann ich mich glücklich schätzen. In meinem Leben gab es bisher immer Menschen, die mir in emotionalen Momenten ein Taschentuch gereicht haben. Denn wie heisst es doch so schön in «Vom Winde verweht»:«Nimm ein Taschentuch, Kind. In den wichtigen Momenten deines Lebens hattest Du nie ein Taschentuch». Ich liebe diesen Satz, weil er so genau auf mich zutrifft. Ich habe nie, aber wirklich nie ein Taschentuch, obwohl ich definitiv zu den Menschen gehöre, die stets eines griffbereit halten sollten. So emotional bewohnt, wie ich bin. Es kann schon entwürdigend genug sein, in public spaces in Tränen auszubrechen, aber aus Mangel eines Taschentuchs auch noch unkontrolliert das Rotzwasser fliessen lassen und mit dem Pulloverärmel abwischen zu müssen – DAS ist wirklich eine Schmach!
Zugegebenermassen kenne ich heute nur noch ganz wenige Menschen, die tatsächlich noch Stofftaschentücher benützen. Mich rührt es jedes Mal von Neuem, wenn ich sehe, wie jemand in seine Hosentasche greift, in aller Ruhe sein kariertes Stofftaschentuch auseinander faltet und einen herzhaften Schneuzer tut. Das ist wie Pfeife rauchen. Oder Steno schreiben. Ein nostalgischer Zeitvertreib, akut vom Aussterben bedroht. Vielleicht wird es irgendwann mal als galant gelten, der Frau statt des Feuerzeugs für die Zigarette das eigene Stoffnastüechli hinzuhalten. Für die Erweiterung meines eigenen kleines Salzsees, den ich in meinem Leben bereits geweint habe, wäre ein Stofftaschentuch als Eindämmung sicherlich von Nutzen. Männer, so könnt ihr punkten! Schliesslich müssen wir alle lernen, besser mit unseren Ressourcen umzugehen. Ein eigenes Stoffnastüechli wäre da ein würdiger Anfang.
Eduschka - 7. Jan, 14:11
Eine Beziehung ist ein Balanceakt zwischen Nähe und Distanz. Manche brauchen viel vom einen, manche viel vom anderen; ein Gegenstand stetiger Aushandlung. Nichts verkörpert diese Wechselwirkung so deutlich wie Hund' und Katz': Ihr Zugang zu Nähe ist völlig unterschiedlich. Eine Katze holt sich Streicheleinheiten, hat aber ihren eigenen Kopf. Sie ist nur dann «verschmust», wenn ihr danach ist. Unabhängigkeit liegt in ihrem Instinkt. Eine Katze kann man unmöglich zähmen. Ganz anders der Hund: Er ist häuslich, anhänglich und beschützend. Und bis auf die Knochen loyal. Ein Mensch des Hundetyps definiert sich über das Du, ein Mensch des Katzentyps will sich nicht auf ein Epizentrum beschränken.
Wie viel wir von der Natur lernen könnten, wären wir nur einsichtig genug! Denn lässt sich ein Mensch des Hundetyps auf einen Mensch des Katzentyps ein, kann das eigentlich fast nur zu wüsten Raufereien führen: Die Katze macht den Buckel und faucht, weil sie sich vom Hund in ihrer Freiheit eingeschränkt fühlt und der Hund knurrt beleidigt, weil er ihr Unabhängigkeitsdrang als eine Absage an ihn missinterpretiert. Und schon befindet man sich mitten im wildesten Gerangel!
Hund und Katze gehen einfach nicht zusammen, das lehrt uns die Beobachtung seit der Domestizierung der Arten. Und doch versuchen wir immer wieder, die Naturgesetze auszuhebeln, mit unserem Intellekt fühlen wir uns über die Natur erhaben. Es tut daher gut, sich ab und zu wieder einmal in Erinnerung zu rufen: Hunde und Katzen können es einfach nicht miteinander. Von wenigen glücklichen Bauernhoftieren einmal abgesehen.
Eduschka - 4. Jan, 13:50
Es gibt Menschen, die verstehen es auf wunderbare Art und Weise, die kleinen Dinge des Lebens wertzuschätzen. Sie – und nur sie – sollten unsere Lehrer sein. Die Menschen, von denen ich spreche, essen die Himbeer-Speise vor dem Hauptgang oder wählen ihren Arbeitgeber ostwärts aus, um morgens in die aufgehende Sonne zu fahren. Diese Menschen würden das «Schöggeli» zum Kaffee niemals im Unterteller zurücklassen oder den Kinosaal vor dem Abspann verlassen. An der Anzahl derer, die nach dem Ende der Kinovorführung gleich aufspringen, ihren Mantel packen und in die Nacht entschwinden, lässt sich ungefähr messen, wie rar der Genussmensch geworden ist. Sie müssen zurück, zurück zu ihren Terminen, ihren Gewohnheiten, ihrem Alltag. Der Genussmensch hingegen bleibt sitzen, wippt ein bisschen mit dem Fuss zur schönen Abspannmusik; ja vielleicht wischt er sich noch eine Träne aus dem Augenwinkel. Für ihn bedeutet das Leben Hingabe. Er will es auskosten, jeden Moment, bis zu des Bechers Neige. Und dazu gehört auch, sich von der Stimmung eines Films bezaubern zu lassen und noch etwas in diesem Gefühl zu schwelgen, während der Abspann über die Leinwand läuft. Wie schön das Leben doch ist! Sitzen bleiben ist so einfach. Man muss es nur tun.
Erschienen im "Winterthurer Stadtanzeiger" vom 15. Dezember 2009
Eduschka - 22. Dez, 12:39
Komme ich jetzt also auch schon ins Alter, wo man sich für gewisse Dinge einfach «zu alt» fühlt? Bewusst wurde mir das, als ich neulich ziemlich lange in einem Café sass. Und während am Nebentisch zu meiner Rechten ein Pärchen sich leise, dafür mit umso heftigeren Worten stritt, wartete zu meiner Linken eine junge Frau, das Handy am Ohr, auf ihren Mathe-Nachhilfelehrer. «Ich habe jetzt dann gleich Mathe-Nachhilfe», liess sie die Person am anderen Ende wissen. «Also dann bis heute Abend», fügte sie abschliessend hinzu und legte auf. Und dann kam er auch schon atemlos angehetzt, die Nachhilfskraft, kaum älter als sie, vielleicht sogar ihr Mitschüler. Die Nachhilfestunde konnte beginnen. Der Anblick der zwei in ihre Bücher vertieften jungen Leute beflügelte meine Fantasie und ich malte mir aus, wie die beiden sich, über Formeln und Primzahlen gebeugt, ineinander verliebten.
Und plötzlich fragte ich mich: Warum habe ICH mich eigentlich nie in meinen Nachhilfelehrer verliebt? Könnte es eventuell daran liegen, dass ich gar nie einen Nachhilfelehrer hatte? In diesem Moment der Klarheit machte sich die ernüchternde Erkenntnis in mir breit, dass es in meinem Leben kaum mehr je die Gelegenheit geben wird, mich in meinen Mathe-Nachhilfelehrer zu verlieben. Meine Schulzeit ist vorüber und von der Mathematik lasse ich für den Rest meines Lebens besser die Finger. Mädel, dieser Zug ist definitiv abgefahren. Eines der vielen Klischees, die ich ausgelassen habe. Oder besser: Das Klischee hat mich ausgelassen.
Bei der Arbeit erwischte mich nochmals ein Klischee kalt im Nacken: Das Klischee des «Schatzi-Taxis». Wenn die jüngere Arbeitskollegin, ungewohnt heiter bei der Aussicht auf den nahenden Feierabend, geschwind ihren Kram zusammenpackt und zur Tür hinaus tänzelt, federleicht und frisch wie die Sommerbrise am Meer. Grund für die gute Laune: Der (wahrscheinlich ältere), coole Freund mit Lederjacke, der bereits ein eigenes Auto hat, holt sie von der Arbeit ab. Gemeinsam brausen sie davon, die Haare der jungen Frau flattern im Wind. Und ich schaue wehmütig hinterher. Das war doch richtig cool, damals! Heute wäre es für meine Freundinnen kaum etwas Weltbewegendes, käme ich mit einem Lederjacken-Freund mit eigenem Auto daher.
Wohl oder übel müssen wir uns damit abfinden, dass der Zug für gewisse Erlebnisse den Bahnhof bereits verlassen hat – und uns am Bahnsteig zurückgelassen hat. Klischees im passenden Alter sind süss – Klischees, die für ein Alter gedacht sind, das nicht unserem eigenen entspricht, sind einfach nur peinlich.
Eduschka - 9. Dez, 11:32